Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Vögelchen, wach auf! Wenn es stimmte, was du glaubst, wenn ich zaubern könnte, würde ich mich in eine Riesin verwandeln. Oder in eine Bärin. Und ich würde dich auf meinem starken Rücken nach Hause tragen. Aber du wirst noch merken, dass dies kein Märchen ist. Ich fürchte, du musst selbst laufen. Jari, Jari!«
    Er blinzelte in das Licht seiner eigenen Taschenlampe. Sie musste sie in seinem Rucksack gefunden haben, ein unpassend hässlicher Gegenstand inmitten der Schönheit des Waldes.
    »Jascha?«, flüsterte er. »Bist du … wirklich … hier?«
    »Ja«, wisperte sie und nahm seine Hand, um ihn auf die Beine zu ziehen. »Komm. Du kannst nicht hier draußen bleiben.«
    Er folgte ihr, halb im Traum noch. Sie ließ seine Hand nicht los.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Jari, ich habe dich im Nebel verloren. Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen.«
    »Wohin … wohin bist du verschwunden? Du warst fort … Was hast du getan?«
    »Esskastanien gepflückt«, antwortete sie. »Sie rösten, zu Hause über dem Feuer. Wenn wir ankommen, sind sie vermutlich gar.«
    »Ich … ich wollte wütend sein«, murmelte er und nahm ihr die Taschenlampe ab, um in ihr Gesicht zu leuchten. Sie schloss die Augen vor der Helligkeit. »Aber wie kann ich wütend sein?«, flüsterte er. »Wütend auf etwas so Schönes?«
    Sie griff nach der Lampe, um den Weg durch den Wald zu leuchten. Bis zum Haus zurück war es weit. Das Feuer im Kamin begrüßte die Heimkehrer wie ein Freund, und Jascha schälte Kastanien. Er sah ihr zu und versuchte, klar zu denken. Aber er war zu erleichtert, dem Labyrinth des Waldes entkommen und wieder in der Wärme zu sein.
    »Trinken wir«, sagte Jascha und hob ihr Weinglas. »Darauf, dass ich dich nicht verloren habe.«
    »Darauf, dass die Wölfe mich nicht gefunden haben«, sagte Jari. Und trank.
    »Braver Zeisig«, wisperte Jascha, doch sie wisperte die Worte so leise, dass er sich nicht sicher war, sie überhaupt gehört zu haben. Sie zog ihr wollenes Kleid aus, das vor dem Feuer zu warm zu sein schien, saß nur im Unterkleid da und begann, die winzigen Wunden an seinen Armen mit dem durchsichtigen Saft des Waldes einzupinseln.
    »Der Wald ist voll von Pflanzen«, sagte sie, »die sich als Arznei verwenden lassen. Er ist voll von heilenden und zerstörenden Kräften.«
    Er hörte nicht zu, er betrachtete sie, während sie die Wunden versorgte. Seine Augen glitten durch den leichten Stoff des Unterkleides, das beinahe aus nichts bestand. Er ballte die Fäuste, so fest er konnte, um sich abzulenken.
    »Wenn du einen Wunsch frei hättest«, flüsterte sie. »Was würdest du dir wünschen?«
    »Etwas, das ich nicht bekommen würde«, antwortete er. Und dann fiel ihm etwas ein, etwas anderes. »Sing für mich. Bitte. Sing das Lied von der Nachtigall.«
    »Es gibt kein Lied von einer Nachtigall.«
    »Natürlich. Ich habe dich singen hören, gestern, es war deine Stimme.«
    »Das vielleicht«, sagte sie.
    »Es war ein schönes Lied, ein trauriges Lied. Was bedeutet es? Ist die Nachtigall tot?«
    »Lass uns schlafen gehen«, sagte sie und stand auf.
    »Wirst du denn mit mir kommen?«
    Sie zog einen der Träger des Unterkleides hoch, der dabei gewesen war, hinunterzurutschen.
    »Nein«, sagte sie. »Aber ich bringe dich zu deinem Zimmer, damit du dich nicht im Nebel verirrst.«

Fuchspelz
    Diesmal wusste er gleich, was ihn geweckt hatte. Er lag still und lauschte, wie in der Nacht zuvor.
    Die zweite Nacht. Es fühlte sich an, als wäre es die hundertste. Als schliefe er schon seit Anbeginn der Zeit in diesem Bett und würde bis zum Ende der Zeit in keinem anderen liegen. Und bis zum Ende der Zeit, dachte Jari bitter, würde er zwischen den Kissen allein sein mit sich und seiner Phantasie. Und seiner Angst.
    Die Wölfe heulten wieder, da draußen, leise und doch ganz nah. Nein. Was hatte er heute gedacht, draußen im Nebeltann, im Dunkelforst, im Schattenwald? Dass es eben nicht das gleiche Geräusch war. Das, was da heulte, war allein, genau wie Jari, und vielleicht war das der Grund für seine Klage.
    Er setzte sich auf. Ihm war schwindelig. Der Wein – war das wieder der Wein gewesen? Der klobige, unförmige Schatten des Zelts, das er über den Stuhl drapiert hatte, verwirrte ihn einen Moment lang und beruhigte ihn dann. Seine Enklave existierte noch, sein kleines Reich aus Normalität und altem grünem Segeltuch. Als er diesmal das Fenster öffnete, machte er eine seltsame Entdeckung: Das

Weitere Kostenlose Bücher