Solange die Nachtigall singt
nur ein Traum, bestimmt, denn warum sollte jemand im Haus ihn auf diese Weise ansehen, heimlich, nachts? Es ist, dachte er, nur ein Traum, in dem das Kind wieder weint – verzweifelter als je zuvor.
Jari war sich wieder nicht sicher, wie viele Tage vergangen waren, als Tronke auf seiner Lichtung auftauchte.
»Junge«, sagte er kopfschüttelnd. »Du verscheuchst den ganzen Wald. Ein Wunder, dass die Bäume noch nicht weggelaufen sind. Was tust du da?«
»Ich übe das Schießen«, antwortete Jari. »Sie … haben mich darum gebeten. Jolanda, Joana und Jascha. Sie brauchen einen Jäger. Sie haben Angst vor den Wölfen. Und vor der Bärin.«
»So«, sagte Tronke langsam, »so, haben sie das. Und du hast keine Angst?«
Jari schwieg.
»Du bist nicht der Erste, das weißt du«, sagte Tronke. Jari nickte.
»Keiner von ihnen hatte einen Jagdschein.« Jari nickte wieder.
»Sie haben auf die Wölfe geschossen, was nicht geht. Auch wenn es vielleicht besser wäre, wenn jemand … Die Wölfe sind geschützt. Auch die Bärin darf keiner so einfach abknallen.« Jari nickte ein drittes Mal. Tronke seufzte. »Komm, Junge«, sagte er. »Lass dir zeigen, wie man richtig schießt.«
So lernte Jari das Schießen von Gunther Tronke, der kein überflüssiges Wort mehr verlor, sobald sie begonnen hatten. Er legte Jaris Hände ans Gewehr, er verbesserte seine Haltung. Jari schoss noch immer zu tief.
»Das Gewehr ist seltsam eingeschossen«, murmelte Tronke einmal. »Auf eine geringere Entfernung. Das verstehe ich nicht. Egal. Schieß höher.« Mehr sagte er nicht, zwei Tage lang nicht.
Am dritten Tag lehnte er an einem Baum und nickte Jari zu.
»Du brauchst mich nicht mehr, Junge«, sagte er. »Bist gut genug. Viel Glück.« Er ging ein paar Schritte fort und drehte sich noch einmal um, wie es offenbar seine Art war. »Sie kommen jetzt bald, wegen der Straße«, sagte er. »Vielleicht weichen die Wölfe dann von selber zurück. Und die Bärin auch. Die Schlucht werden sie zuschütten. Kann sich keiner mehr drin verirren.«
Er nahm seine grüne Mütze ab und schwenkte sie, ungewöhnlich aufgeräumt.
Jari schluckte. Eine Straße. Die Schlucht zuschütten.
Und all die Rosen, die dort unten wachsen?, wollte er dem Förster nachrufen. Und der Bachlauf? Und die Brombeeren am Rand der Schlucht? Und all die Bäume, die sie fällen werden? Sie werden die Schönheit zerstören.
Er hob das Gewehr und zielte, und diesmal traf er das Astloch im alten Baumstamm, auf das er gezielt hatte, beim ersten Versuch.
»Wir brauchen keine Straße«, sagte er laut. »Lasst doch die Wölfe hier leben, ohne den Lärm der Autos. Die Wölfe gehören hierher. Man muss nur wissen, wie man sie in Schach hält, wenn der Winter zu kalt wird. Man braucht nur einen Jäger. Und es gibt einen Jäger. Jari Cizek. Achtzehn ist er und hat sein ganzes Leben vor sich. Ha.«
Und dann machte er sich auf den Weg zum dunklen Auge, um das Spiegelbild des Jägers dort unten zu sehen. Als er den See erreichte, lag er schwarz und glatt vor ihm, schwärzer und glatter als je zuvor. Und es erschien ihm stiller dort, als hielte der Wald den Atem an, um den Jäger zu grüßen, ehrfürchtig. Das Geräusch der kleinen Steinchen, die er auf seinem Weg zum Wasser hinunter lostrat und die unten in den See fielen, schien beinahe unnatürlich laut. Schließlich fiel der letzte Stein ins Wasser, schließlich stand Jari ganz unten am Ufer.
Und da war es, das Spiegelbild des Jägers.
Ja, es sah anders aus als das Spiegelbild des Tischlergesellen. Der neue Jari stand aufrechter da, selbstsicherer, er brauchte sich nicht an dem Gewehr festzuhalten, sich nicht darauf zu stützen – nein, er hielt es als das, was es war: ein Ding, das ihm gehorchte. Ein Ding, über das er Macht hatte und das ihm Macht verlieh. Für Sekunden dachte er zurück an die Welt, aus der er gekommen war: an die stets enttäuschten Augen seines Vaters, an Mattis gutmütiges Grinsen, an die Mädchen, die in Kellerecken jenseits des Lichts von Discokugeln seine Unbeholfenheit belächelt hatten. Keine von ihnen würde jetzt noch lächeln. Er war nicht länger der schüchterne Zeisig. Er war nicht länger der, der hier mit Jascha zusammen gebadet und sich später im Wald verirrt hatte. Er kannte den Wald, und er kannte seine Rolle darin.
»Hier bin ich«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Die Jagd kann beginnen.«
Und als er wieder zum Ufer hinaufstieg, begann sie.
Denn Jari fand eine Spur.
Er fand sie auf der
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