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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Mädchen zitterte vor Angst. Das zweite kleine Mädchen zitterte vor Wut. Das dritte kleine Mädchen vergaß vor Verwirrung, zu zittern.
    Irgendwann hörten die Männer auf, sich anzuschreien, und der, der auf dem Bett gewesen war, ging und knallte die Tür hinter sich zu. Der andere blieb sitzen. Das dritte kleine Mädchen hob die Kamera auf und gab sie dem Mann, der fotografiert hatte.
    »Danke«, sagte der Mann.
    »Danke«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    Sie hörte das zweite kleine Mädchen hinter sich schnauben und wusste, dass sie ihr »Danke« nicht in Ordnung fand. Aber der Mann, der jetzt auf der Bettkante saß, hatte ihr geholfen. Und er sah so unglücklich aus.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Wirklich. Er …« Er wies auf die Tür, durch die der wütende Mann verschwunden war. »Er hatte auch Kinder. So alt wie ihr. Und eine Frau. Aber sie leben nicht mehr. Sie haben sie umgebracht. Es tut mir leid. In diesem Land, für das wir kämpfen, passieren schlimme Dinge. Da sind zu viel Tränen. Blut. Folter. Deshalb kämpfen wir. Euer Vater muss helfen, versteht ihr? Eure Regierung muss Hilfe schicken. Waffen. Für unsere Leute. Euer Vater muss die Leute von der Regierung herumkriegen. Dreimal haben wir ein Treffen vereinbart, um mit ihnen zu reden. Dreimal sind sie mit der Polizei gekommen, und wir konnten nicht reden, wir mussten fliehen. Sie haben ihr Versprechen nie gehalten.«
    »Unser Vater kann nichts machen«, sagte das erste kleine Mädchen.
    »Er ist nur ein Vater«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    »Er hat vergessen«, sagte das zweite kleine Mädchen, »dass er ein Vater ist.«

    Jari begriff nicht, was er sah.
    Nein, natürlich begriff er es, aber es war zu überraschend, um es zu glauben. Und doch zu naheliegend. Auf dem Bett entfaltete sich die Schönheit wie ein Schmetterling in tausend Bilderscherben: Münder und Beine, Zungen und Finger, schlanke Arme und blasse Rücken, schwarzes Haar und blitzende Augen, verwoben zu einem verstörenden Ganzen, zu einem gordischen Knoten. Er sah ein Bein mit einer Narbe, einen Arm und einen Hals, deren Haut nicht mehr makellos waren, doch sie wechselten ihre Position so rasch, dass er nie sagen konnte, welcher der drei Körper sich wo befand.
    Der erste Körper saß.
    Der zweite Körper kniete.
    Der dritte Körper lag.
    Der erste Körper war eins mit dem zweiten. Der zweite Körper umgab den dritten. Der dritte Körper schlang sich um den ersten.
    Einen Moment glaubte Jari, ein Gesicht ohne Augen zu sehen. Doch eine Hand bedeckte jetzt das Gesicht, und er war sich nicht mehr sicher. Das Licht flackerte. Alles war lebendig in diesem Licht, alles wand sich und regte sich: die Wände, die Bettpfosten, die Decken und Kissen, die Schatten. Wie konnte er sagen, was er sah?
    Die Bewegungen auf dem Bett gingen vollkommen lautlos vonstatten, Jari hörte noch immer nichts als ihren Atem und das gelegentliche Rascheln der Decken, auf denen sie ihr Ballett vollführten. Ja, es war wie ein Ballett, ein verbotenes Ballett, nicht für seine Augen bestimmt. Und doch konnte er nicht von seinem Platz weichen, konnte sich nicht rühren. Jascha, Jolanda, Joana. Joana, Jolanda, Jascha.
    Das einzige Geräusch war das unterdrückte Schluchzen, das ab und zu aus einer der Kehlen drang. Ja, dachte Jari, sie alle suchen Trost. Und er hatte geglaubt, er könnte ihnen diesen Trost geben? Sie fanden ihn beieinander, sie waren drei und waren doch eines, sie waren weit mehr als nur Schwestern. Wenn du ganz alleine bist im Wald, hatte eine von ihnen gesagt – er wusste nicht, welche –, wenn du ganz alleine bist, wirst du verrückt .
    In seinem Kopf tauchte Mattis Stimme auf, und sie klang sehr zufrieden. Sie sagte nur ein Wort: »Porno.« Und Jari spürte eine große Erleichterung darüber, dass Matti nicht wirklich da war, um das, was Jari sah, zu etwas Erklärbarem und irgendwie Billigem zu machen.
    Die Kerze – oder die Kerzen – flackerte, die Mädchen befanden sich nun auf dem weichen Teppich, bewegten sich zwischen den Stühlen, fanden den Weg zurück zwischen die Kissen, und von der wirbelnden Vielfalt der Bilder war es letztlich nur eines, das sich klar in Jaris Gedächtnis einbrannte. Es war, als sänken die bunten Glasstücke im geheimnisvollen Inneren eines Kaleidoskops hinab, um ein vollkommen symmetrisches Muster zu bilden. Die drei Körper – Jascha, Jolanda, Joana – Joana, Jolanda, Jascha – knieten aufrecht in der entferntesten Ecke des großen

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