Solange die Nachtigall singt
Seite des dunklen Auges, dort, wo der Ahorn wurzelte; sie führte vom See fort, in eine andere Richtung als die, aus der Jari gekommen war: große Tatzen, überdeutlich in der dunklen Erde. Die Spuren der Bärin. Jari packte das Gewehr. Es war, als hätte jemand die Worte gehört, die er zum Wasser gesagt hatte.
Die Jagd kann beginnen …
Und ganz plötzlich stieg etwas in ihm auf, was er sich ungern eingestand: Angst. Aber die Angst hatte keinen Platz im Leben des neuen Jari. Er griff in seine Tasche, denn dort gab es etwas gegen die Angst, er hatte es für Notfälle eingesteckt: eine Handvoll getrockneter Pilze. Er sah sie an und steckte sie zurück. Die Angst war noch nicht groß genug. Es waren nur Spuren.
Der Jäger verscheuchte die Angst und ging den Spuren nach. Wenn ich sie finde!, dachte er, und das Blut raste jetzt durch seine Adern. Wenn ich die Bärin finde und sie töte, werden die Mädchen meine Liebe erwidern.
Die Spuren endeten. Jari sah auf. Er stand vor dem Eingang einer Höhle am Hang. Felsbrocken lagen davor verteilt, und als er einen von ihnen beiseiteschob, fand er darunter eine kleine silbergraue Vogelfeder. Es war dieselbe Höhle, vor der er geschlafen hatte, damals, zu Beginn seiner Zeit im Wald. Das Sonnenlicht griff mit goldenen Fingern in den Höhleneingang und tastete sich über den festgetretenen Erdboden, auf dem keine Spuren mehr zu sehen waren. In der Tiefe der Höhle jedoch saß eine solide, undurchdringliche Dunkelheit, und je länger Jari diese Dunkelheit ansah, desto kälter wurde ihm. War die Bärin dort? Schlief sie in der ewigen Nacht ihrer Behausung, lag sie wach in der Dunkelheit und wartete auf den Menschen, dessen Atem sie hörte? Oder wartete sie auf ihre drei verlorenen Kinder? Alle gestohlen, alle verdorben …
»Die Nachtigallen, die Bärin, die Wölfe, der tote Vater«, flüsterte Jari. Er verstand die Zusammenhänge nicht, es schien eine lose Aneinanderreihung von Worten, und doch musste es mehr bedeuten. Er hörte etwas in der Dunkelheit, etwas bewegte sich dort.
Er nahm das Gewehr langsam von der Schulter. Seine Finger zitterten, als sie es entsicherten. Etwas atmete in der Schwärze vor ihm, er spürte es mehr, als dass er es hörte. Er machte einen Schritt vorwärts. Nein. Es war Irrsinn, eine Höhle zu betreten, in der man nichts sehen konnte. Die Bärin, da war er sicher, sah ihn: eine deutliche Silhouette vor dem hellen Oval des Eingangs.
Er begann, sie zu locken.
»Komm, komm ans Licht«, flüsterte er. »Ich bin es, der Cizek, ein harmloser kleiner Vogel. Komm, meine Schöne, komm, zeige dich mir!«
Und wenn sie jetzt einen Satz aus der Dunkelheit machte, einen plötzlichen Satz auf ihn zu, wenn sie ihn zu Boden riss? Ihm die Kehle durchbiss, ehe er reagieren konnte?
»Komm langsam«, bat er, und das Zittern seiner Finger hatte jetzt auch Besitz von seiner Stimme ergriffen. »Es ist dumm, dich zu locken, aber ich muss es tun. Bärin, kennst du die Liebe? Ich kenne sie nicht. Ich hatte einen Freund, Matti, der glaubte, er würde sie kennen. Aber ich glaube, er hat sich getäuscht. Sie versteckt sich wie du … Wenn du herauskommst, dann gelingt es mir vielleicht, die Liebe kennenzulernen. Ich muss dich töten. Es ist egal, was ich sage, du verstehst mich sowieso nicht, hörst nur meine Stimme …«
Etwas regte sich jetzt in der Dunkelheit, etwas scharrte auf dem Boden, und Jari musste sich zwingen, nicht kehrtzumachen und zu rennen. Etwas schnaubte. Und dann sah er den schemenhaften Körper der Bärin. Sie hatte sich auf die Hinterbeine erhoben und kam langsam auf ihn zu, ihr Gang schwerfällig und wiegend. Er machte zwei Schritte zurück und hob das Gewehr, und in diesem Moment trat die Bärin über die scharfe Grenze aus Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Traum und Realität. Die Sonnenstrahlen fingen sich in ihrem Fell und ihren Pranken. Doch ihr Fell waren Haare und ihre Pranken große, klobige Hände.
Jari ließ das Gewehr sinken. »Branko.«
Branko nickte. Er sah schlimm aus, seine Kleider waren dreckig und zerrissen, sein Haar zerzaust, seine Augen rot gerändert.
»Was ist passiert?«, fragte Jari. »Ist die Bärin dort drin? Bist du ihr begegnet?«
Branko schüttelte langsam den Kopf. »Bärin, keine«, antwortete er. Seine Stimme war müde. »Branko nur. Branko und Nacht. Hier immer Nacht.«
Er blinzelte ins Licht, hob seine Hände und hielt sie vors Gesicht, um sie zu studieren.
»Brankos Hände voll mit Blut«, sagte er, und
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