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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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»ich …«
    Sie nahm ihn sanft bei der Hand und führte ihn in den Wald. An manchen Stellen glitzerten die Bäume vom Raureif, als hätte das silberne Mondlicht sich dort vergessen.
    »Sorge dich nicht wegen des Gewehrs«, sagte Jolanda. »Dein Vorgänger hat es auch gelernt. Der Wünschelrutengänger.«
    »Hat er für euch gejagt, so wie ich es tun werde?«
    Sie nickte. »Er ist gekommen, um Wasseradern zu finden. Er sprach von Mondphasen und Magie. Joana hat ihn ausgelacht. Ich … nicht. Aber er hat sich verändert. Er hat das Schießen gelernt, für uns. Er hat lange gebraucht dazu, hat nicht aufgegeben, war ein guter Schütze am Ende.«
    »Wollte er nicht mehr für euch jagen?«
    »Ich glaube, er konnte es nicht mehr. Er war zwei Jahre bei uns. Zweimal habe ich mit ihm die ersten blühenden Zweige gepflückt, zweimal die Äpfel geerntet … Ich werde hier nach links gehen. Du bleib hier. Diese Lichtung ist gut, um das Schießen zu üben. Siehst du den alten Baumstamm dort? Du kannst ihn als Ziel benutzen. Er hat es getan damals. Du kannst die Einschusslöcher noch finden.«
    »Warte«, sagte Jari und hielt sie am Arm zurück. »Wohin gehst du? Wozu die Efeuzweige?«
    »Ich gehe ein Grab besuchen«, sagte sie. »Aber frag mich nicht, wem es gehört.«
    Er legte das Gewehr auf einen schulterhohen Ast, gegenüber dem umgestürzten Baum. Die Lichtung war vielleicht hundert Meter breit; hundert Meter Distanz, die die Kugel überwinden musste. Jari hatte keine Ahnung von Schusswaffen. Er war es gewohnt, Löcher in Holz zu bohren, nicht, sie zu schießen. Er stellte sich Mattis Gesicht vor, wenn er ihm den Vorschlag machte, die Löcher ab jetzt mit einer Kugel in die Bretter zu jagen. Es gab Momente, in denen er Matti schmerzhaft vermisste.
    Er zog den Hahn nach hinten, sah durch das Zielfernrohr und drückte ab. Der Schuss ließ tausend Vögel aus den Ästen auffliegen. Das Gewehr sprang aus Jaris Hand, er fluchte. Dann hob er es auf und trat auf die Lichtung hinaus. Legte die Waffe an, ohne sie aufzustützen. Vielleicht war es einfacher so. Er drückte wieder ab. Der Rückstoß ließ das Gewehr nach hinten schnellen und schlug ihm das Glas, durch das er gesehen hatte, gegen das rechte Auge. Jari schrie auf. Einen Moment lang sah er nichts als Lichtblitze, der Schmerz füllte seine ganze Augenhöhle, seinen ganzen Kopf.
    Er hatte das Gewehr fallen lassen und presste sich stattdessen eine Hand vors Auge. Verdammt. Er fühlte bereits, wie die Schwellung darum zu wachsen begann. Es war ihm tatsächlich gelungen, sich selbst ein blaues Auge zuzufügen.
    »Ich wünschte, ich könnte lachen«, knurrte er. »Cizek, du bist und bleibst ein Idiot.«
    Es war still geworden um die Lichtung, sämtliches Getier hatte sich in sichere Distanz begeben, um nicht versehentlich angeschossen zu werden. Jari zielte ein drittes Mal auf den Stamm. Diesmal traf er ihn beinahe, die Kugel schlug zu tief ein, im Boden direkt vor dem Ast.
    Bis zum Abend schaffte er es, sich beinahe die Schulter auszurenken und den Baumstamm zweimal zu treffen. Er zielte noch immer zu tief, obwohl er glaubte richtigzuliegen. Am Ende waren es die Nebel, die ihn nach Hause trieben. Als er dort ankam, stellte er etwas Erstaunliches fest: Er hatte sich nicht verlaufen. Er triumphierte still.
    Im Haus hatte sich der Abend schon in die Ecken gesetzt, blau und weich. Joana bettete Jari auf die Küchenbank und legte feuchte, kühlende Moospolster auf das blaue Auge und die schmerzende Schulter.
    »Mein armer Jäger«, sagte sie. »Hat sich selbst zum Invaliden geschossen.«
    Sie küsste sein geschwollenes Auge und ließ ihren Mund einen Moment zu lange dort verharren, er spürte die Spitze ihrer Zunge an seinen Wimpern.
    Nach einer Weile nahm er das Moos wieder ab, er kam sich lächerlich vor damit. Er half Jascha beim Kochen, und das Kaminfeuer wartete und die Musik der Oboe, des Cellos, der Harfe. Ich lebe in einer WG, dachte Jari, als er ins Bett fiel. Wie verrückt. Ich bin endlich zu Hause ausgezogen, und ich lebe in einer WG mit drei Mädchen, die sich nur gegenseitig lieben. Aber ich lerne das Schießen, weil auch ich sie liebe. Ich werde es ihnen beweisen. Ich werde …
    Er schlief. Tief, fest, gefangen in seltsamen Träumen.
    Er träumte, dass die Tür sich bewegte und jemand hereinkam. Er träumte eine Hand, die einen Brief in seinen Rucksack schob. Den seit Wochen unbenutzten Rucksack. Im Traum spürte er, wie jemand ihn lange, lange ansah. Aber es war

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