Solange die Nachtigall singt
liebe nicht.«
»Du liebst. Aber es geht vorbei. Es tut weh, aber es hört auf wehzutun.«
»Sie hat recht. Wir wissen, wovon wir reden. Es hört auf, eines Tages hört es auf.«
»Man muss Opfer bringen.«
»Nein! Man muss gar nichts! Wer macht denn die Regeln?«
»Du.« Und wieder das Lachen. »Du allein.«
»Hast dich gefangen. Hast uns alle gefangen, in einem Spinnennetz. Die Fäden sind zu stark geworden, du kannst sie nicht mehr zerreißen, und wir, wir konnten es nie.«
»Aber das begreifst du ja nicht!« Jetzt blitzte Spott in dem Lachen auf, und Jari wusste, dass es Joanas Lachen war. »Weigerst dich, sträubst dich, willst nicht. Kind! Geh nur und leg deine Federn unter die Steine. Sing nur, wenn die Dämmerung kommt. Bleibst am Ende doch allein mit deinem Lied.«
»Aber sorge dich nicht! Sorge dich nicht, es ist wahr, dass es vorübergeht. Er wird uns retten, wird bleiben, wird gehen, wird unter der Erde liegen. Du wirst weinen, natürlich. Doch der Wind wird die Blätter fortwehen, der Wind wird den Schnee bringen, der Wind wird den Frühling herantreiben, und alles wird sein wie bisher. Alles beginnt stets von Neuem. Von der Liebe bleibt nichts.«
Jari schluckte. Er wollte über die Worte nachdenken, die er gehört hatte, und er wollte es nicht. Er wollte es mehr nicht, als dass er es wollte. Er öffnete die Schiebetür und sah die Mädchen zusammenzucken.
»Ich … ich habe ein wenig herumgetrödelt in der Küche«, murmelte er. »Aber jetzt bin ich da …«
»Ja«, sagte Jascha – oder er glaubte, dass es Jascha war. »Jetzt bist du da.«
Sie kniete vor dem Feuer und schürte es mit dem Eisenhaken. Der Umriss ihres Körpers zeichnete sich schlank und dunkel vor der Helligkeit der Flammen ab, wie ein Baum im Wind. Ein Baum, der gefällt werden würde, um eine Schneise in den Wald zu schlagen, für eine glatte, graue Fläche aus Asphalt. Jetzt setzte sie sich auf die Sofakante und nahm das Cello auf.
Auch Branko war da, er stand stumm am Fenster, während das Cello zum Leben erwachte, und im beinahe Verborgenen, im Schatten der spanischen Wand, Oboe und Harfe. Die Töne perlten durch die Luft wie Wassertropfen, die letzten Wassertropfen einer Quelle, dachte Jari, ehe sie versiegt, vertrocknet, verendet. Würde auch die Welt der Mädchen versiegen, vertrocknen, verenden, bald schon, zu bald? Konnte dies hier, dieses Haus voller Geheimnisse und voller Schönheit, weiterbestehen, wenn eine Straße gebaut wurde? Würden der Straße nicht Parkplätze folgen, breite Wanderwege, die den Wald zerschnitten und jedes Geheimnis erstickten? Würde der Wald nicht letztlich ein Park, ein gezähmtes, gefesseltes Tier?
Jari drehte sich nach Branko um, der noch immer mit dem Rücken zu ihnen vor einem der Fenster stand. Starrten seine geronnenen Augen in den dunklen, undurchdringlichen Wald? Oder hatte er sie geschlossen, um der Musik zu lauschen? Begriff er, was Musik war?
In dem Moment, als Jari sich das fragte, begann Branko zu singen. Jari zuckte zusammen wie unter einem Schlag vor Überraschung. Branko hatte eine tiefe, volltönende Stimme, und die Worte, die er sang, waren nicht seine eigenen. Es waren Worte, die er viele Male gehört hatte, und die sich in ihm festgesetzt hatten. Und er sang nicht allein. Jolanda und Jascha sangen mit ihm.
»Lang, dass deine Stimme brach,
bist stumm.
Und wenn der Mond scheint
und wenn ein Kind weint,
frag nicht, warum.
Bist nur ein Traum im Wald,
ewig jung und uralt,
stumm, stumm.
Ich hab noch dein Herz gespürt,
sacht, sacht.
Und hab dir leise
auf meine Weise
ein Versprechen gemacht.
Ich will mein ganzes Sein
nur deiner Schönheit weih’n,
sacht, sacht.
Lang, dass deine Stimme brach,
bist stumm.
Und wenn der Mond scheint
und wenn ein Kind weint,
frag nicht, warum.
Bist nur ein Traum im Wald,
ewig jung und uralt,
stumm, stumm.«
Branko hatte seine großen Hände ineinandergekrallt, als müsste er etwas sehr Kleines darin festhalten, etwas schützen, ein winziges Vögelchen vielleicht, zerbrechlich und zart. Die letzten Töne verklangen.
Jascha stand auf, lehnte das Cello an die Wand und ging zu ihm hinüber. Jari sah, wie sie seine Finger sanft voneinander löste, und da streckte er sie vor sich aus. Sie waren blutig. Branko hatte die Nägel tief in die Handflächen gebohrt, während er gesungen hatte. Jascha wischte das Blut mit dem Ärmel ihres weichen Kleides fort. Dann fasste sie Branko an der Hand und führte ihn durch die weiße
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