Solange du schläfst
gehen?«
Meine Vater nickte.
13.
In den nächsten drei Wochen beruhigten sich meine Eltern langsam wieder. Claudia kapierte endlich, dass sie mich nicht dazu zwingen konnte, mich mit den Jugendlichen im Dorf anzufreunden, und Carsten vergrub sich mal wieder in seiner Arbeit. Und ich, ich schwebte irgendwo ganz weit oben auf Wolke sieben und hatte es mir dort zusammen mit Jérôme so richtig gemütlich gemacht. Die Schule, Tanja, die noch immer hartnäckig versuchte, aus mir ihre beste Freundin zu machen, Konstantin und seine Clique, Jérômes wortkarge Tante, sein ständig schlecht gelaunter Onkel, selbst die Tatsache, dass Jérômes Wegzug immer näher rückte – all das war unwichtig. Für mich zählte nur noch die Zeit, die ich mit Jérôme verbrachte, sogar Rashun und Maschagar vernachlässigte ich und hatte dabei noch nicht einmal den Hauch eines schlechten Gewissens.
Jérôme schien es genauso zu gehen. In den Pausen wich er nicht von meiner Seite, im Bus saß er immer neben mir und ließ sich auch von Tanjas zickigen Blicken nicht davon abbringen und nachmittags kam er meist mit zu mir nach Hause. FürClaudia war das inzwischen völlig okay und Carsten war sowieso die meiste Zeit nicht da.
Häufig brachte mir Jérôme eines seiner Bücher und manchmal auch seinen iPod mit seinen Lieblingsliedern mit. Dann lagen wir auf meinem Bett, hörten Musik und redeten miteinander, über unsere Pläne, Hoffnungen und Träume. Über das gemeinsame Auslandsjahr, das wir nach dem Abi in Australien verbringen wollten.
Wenn wir zusammen waren, dann war alles gut. Jérôme war witzig, locker und unglaublich lieb zu mir. Dennoch merkte ich, dass da irgendetwas war, das ihn belastete. Es war so ein diffuses Gefühl, das ich nicht genau greifen konnte. Und sobald ich etwas in der Art auch nur andeutete, winkte Jérôme ab und meinte, ich würde spinnen.
Doch dann kam der Tag, an dem dieses Gefühl anfing, Gestalt anzunehmen – menschliche Gestalt.
Wir hatten einen langen Spaziergang mit Flöckchen, dem Hofhund von Jérômes Onkel, gemacht und wollten die Hündin nur schnell zurückbringen und dann zu mir gehen.
Ich blieb ein paar Schritte vor dem Gatter stehen, während Jérôme Flöckchen auf den Hof ließ. Er war schon im Begriff zu gehen, als seine Tante plötzlich die Haustür aufzog und mit hochrotem Kopf nach ihm rief. »Jérôme, kommst du mal rein?!«
»Ist es dringend? Anna wartet auf mich.«
»Komm rein!«, schrie sie.
Wow, was für ein netter Umgangston, dachte ich und warf Jérôme einen vielsagenden Blick zu. Der schüttelte kaum merklich den Kopf und marschierte Richtung Haustür. An seiner Körperhaltung konnte ich sehen, wir sehr er sich über die schroffe Art seiner Tante ärgerte.
»Was soll das denn?«, hörte ich ihn schimpfen, bevor er im Hausinnern verschwand und seine Tante laut die Tür zuknallte.
Blöde Kuh, schoss es mir ärgerlich durch den Kopf. Das hat die doch mit Absicht gemacht. Die hat genau gesehen, dass ich vorm Gatter warte.
Jérôme war nur ein paar Minuten im Haus verschwunden. Doch als er wieder raustrat, hatte ich das Gefühl, einen anderen Menschen vor mir zu haben. Nichts an seinem Gesicht erinnerte daran, wie glücklich, fröhlich und entspannt er eben noch beim Spaziergang gewesen war. Der Mund war nur noch ein schmaler Strich, die Augen tiefschwarz, kalt und abweisend, und plötzlich war da auch wieder die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen, die ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte.
»Was ist passiert?«, fragte ich beklommen.
»Nichts.«
»Jérôme, erzähl keinen Mist. Jetzt sag, was los ist!«
Er schaute mich einen Moment schweigend an. Sein Blick war so hart und verschlossen, dass sich mein Magen verkrampfte. Schließlich zog er scharf die Luft ein und murmelte: »Meine Tante labert Schwachsinn. Das ist alles.«
»Was labert sie denn?«, bohrte ich nach.
»Anna, vergiss es einfach.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. »Sag mal, fängt dieses bekloppte Ich-kann-es-dir-nicht-sagen-Getue jetzt schon wieder an? Ich dachte, das hätten wir hinter uns?!«
»Gut«, schnauzte Jérôme zurück. »Wenn es dich so brennend interessiert: Ein paar Typen bombardieren mich mit lächerlichen Drohbriefen der Marke: Verpiss dich aus dem Dorf, sonstbist du tot! Bisher hab ich die Dinger immer selbst aus dem Briefkasten gefischt, bevor mein Onkel oder meine Tante etwas davon mitbekamen. Doch heute hatte Ella höchstpersönlich
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