Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange du schläfst

Solange du schläfst

Titel: Solange du schläfst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Szillat
Vom Netzwerk:
gehabt hätte.
    Aber warum ging Jérôme dann nicht an sein Handy?, meldete sich wieder die Stimme in meinem Kopf. Warum rief er nicht bei mir an? Wir hatten an dem Abend miteinander geschlafen. Unser erstes Mal. Und seitdem war er verschwunden, hatte sich nicht mehr bei mir gemeldet. Das konnte doch nicht sein!
    Mein einziger Hoffnungsschimmer war die Schule. Vielleichtwürde ich ihn heute Morgen dort treffen, so als wäre nichts geschehen?
    Als ich kurz vor sieben Uhr das Haus verließ und zur Bushaltestelle eilte, atmete ich erleichtert auf. Ich war froh, der angespannten Stimmung zu Hause entkommen zu sein. Der bleiernen Sorge, die nicht nur mir, sondern auch meiner Mutter ins Gesicht geschrieben stand, und der Wut und dem Unverständnis, das mir mein Vater entgegenbrachte. Gleichzeitig wuchs in mir die Hoffnung, dass Jérôme an der Bushaltestelle auf mich warten würde.
    Ich war so in Gedanken versunken, dass ich den Fahrradfahrer, der neben mir aufgetaucht war, zunächst nicht bemerkte. Erst als er mich fast überholt hatte und sich dabei räusperte, blickte ich überrascht zur Seite.
    »Wollte dich nicht erschrecken, junges Fräulein«, schnarrte er und verzog seine aufgesprungenen Lippen zu einem zahnlosen Grinsen.
    »Haben Sie aber«, erwiderte ich kurz und wollte weitergehen. Doch als er von seinem Rad stieg, blieb ich widerwillig stehen. Ich kannte den Mann vom Sehen. Seinen Nachnamen wusste ich nicht. Alle nannten ihn einfach nur Gerd. Ich schätzte ihn auf Ende siebzig. Trotz seines Alters hatte er noch volles dunkles Haar, das er aalglatt gekämmt und in der Mitte streng gescheitelt hatte. Er trug stets dieselben Sachen: graue Stoffhose, kariertes Hemd und blauer Pullunder. Zumindest hatte ich ihn noch nie in anderen Klamotten gesehen.
    »Du bist doch mit dem Neffen von Reinekes Ella bekannt, nich?«
    Ich horchte auf. »Warum wollen Sie das wissen?«, erwiderte ich beunruhigt.
    »Ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren, Mädchen«, sagte und hob gleichgültig die Schultern.
    Ich zuckte zusammen. »Was ist passiert?«, keuchte ich. Es war, als ob sich eiskalte Hände um meinen Hals gelegt hätten, um mir die Luft abzudrücken.
    »Den hat der Bartels gestern am späten Abend hinter seiner Scheune gefunden. Mehr tot als lebendig. Der muss da schon seit Samstagnacht gelegen haben. Der Bartels wollte spät noch etwas Holz für den Ofen holen, da hat er den Jungen hinter dem Brennholz entdeckt. Der war aber wohl schon nicht mehr bei sich …«
    Ich sah, wie sich Gerds Lippen weiterbewegten, aber es drang nichts mehr zu mir durch.
Mehr tot als lebendig
, hallte es in meinen Ohren nach, nahm mein ganzes Denken in Beschlag, legte sich wie ein Eisenring um meinen Magen.
    Eine Woge aus Übelkeit überkam mich. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, schnappte in kurzen heftigen Zügen nach Luft und versuchte verzweifelt, das Würgen zu unterdrücken.
    Und dann fiel mir der Traum wieder ein. Der Traum, der keiner gewesen war.
    Mit einem lang gezogenen Stöhnen beugte ich mich vornüber und übergab mich direkt neben Gerds Vorderrad.

19.
    Jérôme nahm den beißenden Geruch von Ethanol wahr. Als hätte er eine ganze Flasche Schnaps getrunken. Er versuchte zu schlucken, würgte und musste feststellen, dass seine Zunge ihm nicht mehr gehorchte. Auch die Augen konnte er nicht öffnen. Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme, die auf ihn einzureden schien. Sie drang nur in Wellen zu ihm durch, mal kräftig, dann wieder kaum hörbar.
    Dann konnte er die Stimme deutlicher verstehen. »Er kommt zu sich.«
    Jérôme spürte etwas Kühles auf seiner Stirn. Zuckte innerlich zusammen, als er begriff, dass es sich um eine Hand handelte.
    Lasst mich!
    Er wollte sich der Berührung entziehen, wollte den Kopf wegdrehen. Doch sofort war der stechende Schmerz wieder da.
    »Kannst du mich verstehen? Jérôme, hörst du mich?«
    Verschwindet! Lasst mich doch endlich in Ruhe!
    »Kannst du die Augen öffnen?«
    Nein!
    Dennoch unternahm er einen weiteren Versuch. Diesmal war das Stechen weniger schlimm. Er öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und erkannte die verschwommenen Umrisse einer Gestalt, die sich über ihn beugte. Schützend wollte er die Arme vor den Kopf heben, doch ein erneuter Schmerz ließ ihn aufstöhnen.
    »Alles ist gut, Jérôme. Ganz ruhig, ich tue dir nichts. Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir wehtun. Hab keine Angst«, redete die Stimme auf ihn ein. »Du bist im Krankenhaus, Jérôme. Ich

Weitere Kostenlose Bücher