Solange du schläfst
mitbekommen und seinen Vater verständigt. Daraufhin soll Jérôme die Flucht ergriffen haben.«
»Anna, du musst uns jetzt die Wahrheit sagen, hat er dir auch schon Drogen gegeben? Hast du dich von ihm dazu verleiten lassen, etwas zu nehmen?«, redete Carsten eindringlich auf mich ein.
Ich schluckte schwer. Das war doch wirklich nicht zu fassen. Wie konnten meine Eltern so einen Blödsinn glauben? Ich war sprachlos. Aber was sollte ich zu diesem Irrsinn auch sagen, außer, dass dies der größte Mist war, den ich jemals gehört hatte.
»Ihr spinnt doch!«, stieß ich hervor.
Mein Vater sprang so energisch auf, dass der Küchenstuhl umkippte. »Hör sofort auf! Das ist bitterer Ernst. Morgen wird Herr Krause Jérôme bei der Polizei anzeigen und das Jugendamt wird er auch verständigen. Und du wirst dich nicht mehr mit diesem Jungen abgeben. Ist das klar?!«
»Das kann nicht euer Ernst sein! Dieser bekloppte Konstantin hat sich den ganzen Scheiß doch nur ausgedacht. Wie könnt ihr dem denn mehr glauben als Jérôme und mir?« Ichschüttelte den Kopf und lief aus der Küche. Wütend stürmte ich die Treppe hinauf, rannte über den Flur in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Dort lief ich unruhig auf und ab und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
Natürlich war mir klar, dass Konstantin hinter der Sache steckte. Aber etwas anderes bereitete mir weitaus größere Sorgen. Eine schlimme Vorahnung.
Konstantin wird diese unverschämte Lüge durchziehen, dachte ich, wird Jérôme tatsächlich die Polizei und das Jugendamt auf den Hals hetzen.
Ich musste ihn warnen, ihn sofort anrufen und von dieser miesen Verleumdung erzählen. Wer wusste schon, wie weit dieser Typ gehen würde? Dem traute ich mittlerweile so ziemlich alles zu.
Ich fühlte mich schrecklich – hilflos und zugleich schuldig. Weil ich Jérôme gezwungen hatte, mit mir zu diesem bescheuerten Erntedankfest zu gehen. Weil ich Konstantin blöd angemacht und Jérôme gegen seinen Willen auf die Tanzfläche geschleppt hatte, um ihn vor allen Augen zu küssen. Um allen zu zeigen, dass ich mich nicht von ein paar hirnlosen Typen beeindrucken ließ. Doch wie sich Jérôme dabei gefühlt hatte, darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht.
Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Hastig hob ich meine Tasche vom Fußboden auf und kramte mein Handy hervor. Mit zittrigen Fingern wählte ich Jérômes Nummer.
Es klingelte … und klingelte …
Dann sprang seine Mailbox an.
»Hi, hier ist Jérôme. Leider habe ich keine Zeit, ans Telefon zu gehen. Entweder du probierst es später noch mal oder du hinterlässt mir eine Nachricht nach dem Piepton.«
Als ich Jérômes Stimme hörte, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Ich schmiss mich der Länge nach aufs Bett und schluchzte laut in mein Kopfkissen.
Was war ich doch für eine blöde, egoistische Kuh!
Ein leises Klopfen an der Zimmertür weckte mich. Stöhnend setzte ich mich auf. »Ja?«
Claudia steckte den Kopf zur Tür herein. Sie lächelte verunsichert. Ihre Stimme klang beinah schüchtern, als sie sich neben mich aufs Bett setzte und sagte: »Es tut mir schrecklich leid. Wir hätten dir das gestern Nacht nicht einfach so an den Kopf knallen dürfen.«
Ich schaute sie hoffnungsvoll an. »Soll das bedeuten, dass du mir glaubst?«
Claudia zögerte. »Ich weiß nicht, vielleicht … vielleicht ist …«, druckste sie herum.
»Glaubst du mir oder nicht?«, fiel ich ihr ins Wort.
»Ich weiß es einfach nicht, Anna«, gestand sie und wich meinem Blick aus. »Es spricht so viel gegen ihn und doch traue ich Jérôme das einfach nicht zu.«
Ich schluckte schwer. Tränen rannen mir über die Wangen das Kinn hinunter und tropften auf die Bettdecke. »Mama, das ist eine Lüge. Eine ganz, ganz miese Lüge. Jérôme würde so etwas nie im Leben tun, das weiß ich. Und wenn du dir die Mühe gemacht hättest, ihn besser kennenzulernen, dann wüsstest du das auch und würdest nicht eine Sekunde an ihm zweifeln.«
Claudia streckte den Zeigefinger aus und strich mir eine Träne von der Wange. »Und warum das alles? Warum sollte Herr Krause so etwas behaupten? Das kann er sich in seiner Position doch gar nicht erlauben.«
Ich holte tief Luft. »Keine Ahnung«, gab ich zu. »Aber du …« Ich brachte meinen Satz nicht zu Ende, weil es mir plötzlich so sinnlos vorkam, meine Mutter von Jérômes Unschuld zu überzeugen. Wenn sie diesen Typen mehr glaubte als ihrer Tochter, dann konnte ich ihr auch nicht
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