Solange du schläfst
Frau Reineke, ich weiß, es ist schwer für Sie, aber können Sie uns sagen, wie es Jérôme jetzt geht?«, redete Claudia behutsam auf sie ein.
Ella schaute meine Mutter eine Weile schweigend an.
»Im Moment können die Ärzte uns nichts Genaues sagen«, antwortete sie schließlich. »Nach der OP ist er zunächst zu sich gekommen. Die Ärztin sagte, es sähe gut aus. Kurze Zeit später ist er dann ins Koma gefallen …«
»Was?« Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, wollte nicht glauben, was sie da gerade gesagt hatte.
Abrupt fasste Jérômes Onkel seine Frau unter und wollte sie mit sich ziehen. »Es reicht jetzt«, knurrte er. »Meine Frau braucht Ruhe. Wir haben gesagt, was wir wissen. Nun lassen Sie uns in Frieden.«
Damit wollte er sie fortziehen, aber ich hielt krampfhaft ihren Unterarm umklammert. »Bitte, sagen Sie mir, wie es Jérôme geht … Was sagen die Ärzte? Wann wird er wieder aufwachen? Bitte, ich muss es wissen!«, flehte ich sie an.
Aber sie reagierte nicht auf meine Fragen. Sie schien komplett weggetreten zu sein.
Ihr Mann holte tief Luft und bedachte erst Claudia und dann mich mit einem eisigen Blick. Doch schließlich antwortete er: »Das CT hat gezeigt, dass es zu einem Subduralhämatom gekommen ist. Fragen Sie mich jetzt nicht, was genau das bedeutet. Tatsache ist, dass die Ärzte derzeit noch keine Prognose stellen können. Jérôme kann morgen wieder aufwachen, aber auch genauso gut für immer im Koma liegen. Er wird künstlich ernährt und beatmet und hängt an unzähligen Maschinen, die ihn am Leben halten. Wir durften nur ganz kurz zu ihm. Falls er wieder aufwacht, ist aber nicht auszuschließen, dass neurologische Schäden zurückbleiben. So, mehr wissen wir auch nicht und jetzt lassen Sie uns bitte gehen.«
Ich löste meinen Griff um Ellas Unterarm. Ein stechender Schmerz schoss durch meine Stirn, fast so, als ob mir jemand einen spitzen Dolch hineingerammt hätte.
Atme, Anna, atme einfach weiter, zwang ich mich.
Ich spürte Claudias Hand auf meinem Rücken. Dann setzte das Augenflimmern ein. Panik breitete sich in mir aus. Kalter Schweiß trat mir aus den Poren. Ich musste hier weg! Sofort!
»Anna, bitte beruhige dich.« Das war wieder meine Mutter. Irgendwo in der Ferne – ganz weit weg.
Ruckartig drehte ich mich um, stolperte nach draußen und ließ mich direkt neben dem Eingang vor einem breiten Blumenbeet auf die Knie fallen.
Krampfhaft umfasste ich die Betoneinfassung und beugte mich mit dem Oberkörper weit darüber. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Das Wasser rann mir in den Nacken. Ich schloss die Augen und rang nach Luft.
Nach einer Weile spürte ich, wie sich zwei Hände unter meine Achseln schoben und ich behutsam wieder auf die Beine gezogen wurde. Ich war bis auf die Haut durchnässt. Meine Fingerkuppen waren aufgesprungen. Blut und Erde klebten daran.
Als ich aufblickte, sah ich direkt in Claudias erschrockenes Gesicht.
»Anna, um Himmels willen. Komm, ich bringe dich nach Hause«, sagte sie.
»Nein, das geht nicht. Ich muss zu Jérôme! Ich hab ihn gesehen und überall war blutige Erde. Ich muss wissen, was mit ihm passiert ist. Er hat doch nach mir gerufen … Mama, bitte!«
Claudia schüttelte vehement den Kopf. »Das hast du alles nur geträumt. Lass uns gehen. Du kannst sowieso nicht zu Jérôme. Sie werden dich nicht zu ihm lassen.«
»Ich kann hier jetzt aber nicht weggehen«, sagte ich ernst und schaute meine Mutter eindringlich an.
Als sie mich unterhakte und sanft, aber bestimmt zum Auto zog, leistete ich keinen Widerstand.
21.
Jérôme stöhnte auf. Er fühlte sich matt und erschöpft. Als wäre er aus einem bleiernen Schlaf gerissen worden, in dem er von wirren Bildern und Träumen geplagt worden war.
Er öffnete die Augen. Alles war schwarz. Eine so tiefe Dunkelheit, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Nicht der winzigste Lichtschein drang zu ihm durch, kein Hauch von Farbe.
Wo bin ich? Was ist geschehen?, fragte er sich.
Dann fiel ihm das Licht wieder ein und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er schnappte nach Luft. Panik machte sich in ihm breit.
Das Licht, wo war das Licht?
Er blinzelte in die Dunkelheit. »Hallo?«
Niemand antwortete.
»Hallo«, versuchte Jérôme es noch einmal. »Ist da jemand?«
Stille. Bis auf seinen Herzschlag. Pochpoch … Pochpoch …
»Wo bin ich hier? Hört mich denn keiner?«
Mit den Händen versuchte Jérôme, die Wand aus Dunkelheit zur Seite zu schieben. Aber er fühlte sie
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