Solange du schläfst
helfen.
Ich stand auf und bückte mich nach meinem Handy, das ich in der Nacht neben mein Bett gelegt hatte, falls Jérôme zurückrufen würde. Ich wählte seine Nummer und wartete. Wieder sprang nach mehrmaligem Tuten die Mailbox an.
»Jérôme, bitte ruf mich ganz schnell zurück, ja? Es ist dringend«, sagte ich und legte auf. Dann nahm ich meine Jeans und mein blaues Shirt vom Schreibtischstuhl und ging damit zur Tür.
»Was hast du vor?«, fragte Claudia.
»Ich gehe ins Bad, ziehe mich an und fahre zu Jérôme.«
»Vielleicht ist die Polizei schon bei ihm.« Claudia fasste mich am Arm.
Ich blieb im Türrahmen stehen und schaute meine Mutter schweigend an. »Dann sollte ich mich besser beeilen.« Ich schüttelte ihre Hand ab. »Schließlich bin ich die Einzige, die weiß, dass Jérôme unschuldig ist.«
Der Hof lag still und friedlich vor mir, als ich mein Rad abstellte. Doch der erste Eindruck täuschte.
»Es reicht mir! Endgültig! Schluss und vorbei«, fauchte es hinter der verschlossenen Haustür, als ich gerade den Zeigefinger auf den Klingelknopf legen wollte. Erschrocken ließ ich ihn wieder sinken.
Herr Krause war wohl schon hier gewesen, dachte ich. Das bedeutete, dass Jérôme meine Unterstützung jetzt gut gebrauchen konnte.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte den Klingelknopf. Augenblicklich wurde die Tür aufgerissen und vor mir stand Jérômes Tante. Ihr eben noch wutverzerrter Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie mich erkannte. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre schmalen Lippen. Ich sah, dass sie geweint hatte.
»Anna. So früh schon. Wo ist denn Jérôme?«
»Warum fragen Sie nach Jérôme? Ist er etwa nicht zu Hause?« Angst machte sich in mir breit wie ein Faustschlag in den Magen.
»Nein, ich dachte, er sei bei dir. Er ist nicht an sein Handy gegangen, also …«
Hinter ihr tauchte Jérômes Onkel auf. Sein Gesicht war kalkweiß. »Jérôme war heute Nacht nicht bei dir?«, fiel er seiner stammelnden Frau ins Wort, und ich hatte das Gefühl, als ob der Boden unter mir zu schwanken begann.
»Oh Gott«, jammerte Jérômes Tante. »Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist? Meine Schwester hat mir ihren Sohn anvertraut. Er … er ist ihr Ein und Alles, ihr einziger …« Sie brach ab, schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen.
Jérômes Onkel legte ihr unbeholfen die Hand auf die Schulter und blickte betroffen zu Boden. »Willst du nicht erst mal reinkommen?«, sagte er.
»Nein danke«, erwiderte ich tonlos. »Ich mache mich lieber auf die Suche nach ihm.«
»Hoffentlich ist ihm nichts passiert«, schluchzte Jérômes Tante. »Ich wusste es doch … die Briefe …«
»Briefe?«, fiel ich ihr aufgeregt ins Wort. »Hat er wieder welche bekommen?«
Doch bevor sie mir antworten konnte, schob ihr Mann sie zur Seite und sagte: »Meine Frau braucht jetzt ihre Ruhe. Wirmelden uns, wenn wir etwas von Jérôme hören. Sicherlich hat er bei irgendeinem Freund übernachtet. Kein Grund zur Sorge.« Er nickte mir kurz zu und schloss dann die Haustür.
Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
Da stimmt was nicht, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Jérôme ist etwas passiert.
Das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers.
17.
Den ganzen Tag über hatte ich nach Jérôme gesucht. Mit dem Fahrrad war ich durchs Dorf, die umliegende Feldmark und sogar ein gutes Stück in den Wald gefahren. Unzählige Nachrichten hatte ich auf seiner Mailbox hinterlassen, die allesamt unbeantwortet blieben.
Jérôme war verschwunden. Spurlos. Als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst.
Gegen Abend fing es an zu regnen. Trotzdem machte ich noch einmal eine Runde durchs Dorf. Aber auch diesmal war meine Suche erfolglos.
Dafür traf ich auf Konstantin, der mit einem Typen aus seiner Clique unterwegs war. Sie versperrten mir den Weg und grinsten blöde.
»Suchst du etwa deinen Freund?«, fragte Konstantin mit vor Ironie triefender Stimme.
Was seid ihr doch für selten blöde Schwachköpfe!, hätte ich ihnen am liebsten ins Gesicht geschrien. Doch ich schluckte die Worte mühsam hinunter und tippte mir stattdessen nur mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
Nicht noch mehr Stress, Anna, damit hast du schon genug angerichtet.
»Hey, nicht frech werden, klar!?«, schnauzte mich sein rot gelockter Handlanger an und machte einen Schritt auf mich zu.
Im Haus gegenüber wurde die Tür geöffnet und ein älteres Ehepaar trat heraus. Konstantin und sein Kumpel schauten zu ihnen
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