Solange du schläfst
einfach nicht. Nicht die Bewegung und auch nicht die Wand.
Er wollte die Beine anwinkeln und mit aller Kraft dagegentreten. Doch auch seine Beine gehorchten ihm nicht. Als ob man die Fäden einer Marionette durchtrennt hätte und sie nun schlaff dalag. Ein lebloser Körper. Nur noch eine Hülle.
Denk nach, Jérôme, überleg, was passiert ist!
Erinnerungsfetzen schwirrten ihm durch den Kopf. Er war mit Anna auf diesem Fest gewesen. Sie hatten getanzt, sich geküsst.
»Komm, lass uns einfach abhauen!«, hatte Anna gesagt und er hatte genickt. Anna hatte den ganzen Weg über gekichert. Warum, wusste Jérôme nicht mehr.
Und dann?
Annas Zimmer. Wieder hatten sie sich geküsst, so leidenschaftlich, dass es ihm den Atem geraubt hatte.
»Bist du sicher?«, hörte er sich fragen.
Anna schaute ihn an. »Ganz sicher«, sagte sie und zog ihn zum Bett.
Dann hatte er fortgemusst. Zu einer Verabredung, von der Anna nichts erfahren durfte. Er erinnerte sich an das schlechte Gewissen, das er verspürt hatte, als er Anna zum Abschied angelächelt hatte. Sie hatte ihn so zärtlich angeschaut, dass es ihm schwergefallen war zu gehen. Dennoch hatte er es getan, hatte keine andere Wahl gehabt.
Und dann? Was war dann geschehen?
Wieder kam ihm das Licht in den Sinn. Warm und irgendwie tröstlich hatte es ihn umhüllt, mit sich getragen, bis … Anna. Plötzlich war Annas Gesicht vor ihm aufgetaucht.
Er versuchte, sich umzuschauen, spürte aber seinen Kopf nicht.
»Anna?«, flüsterte er in die Dunkelheit.
Und dann etwas lauter: »Anna? Bist du hier?«
Bis er irgendwann zu schreien begann: »Anna? Anna? Wo bist du? Anna?«
Jérôme hielt inne, lauschte gespannt. Und ganz allmählich begriff er. Hier war niemand. Er war allein. Und das alles war auch kein Traum. Das war die Wirklichkeit.
Er spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Ein leises Schluchzen hallte in seinem Kopf wider. Dann erfasste ihn eine bleierne Müdigkeit und nahm ihn mit in die kalte, unendliche Finsternis.
Das tiefe Koma, in das Jérôme gefallen war, ähnelte einem traumlosen Schlaf, einer Art energiesparendem Notfallprogramm seines Körpers. Das erzählte mir jedenfalls Jérômes Tante später am Telefon, als sie sich wieder etwas gefasst hatte. Er schluckte zwar und seine Lider bewegten sich, aber das waren nur Reflexe.
Jérôme hatte ein kräftiges Herz und auch sein Gehirn funktionierte, wenn auch stark eingeschränkt. Er konnte noch jahrelang so daliegen und künstlich beatmet werden … oder er konnte mit einem Mal wieder aufwachen. Doch die Chancen nahmen mit jedem Tag ab, den er weiter im Koma lag.
Für mich blieb das alles fremd und abstrakt. Ich konnte noch immer nicht glauben, was geschehen war. Immer und immer wieder tauchte das eine Bild in meinem Kopf auf: Jérômes Gesicht, schmal, starr und angespannt. Seine blutverschmierten Hände, die ich in meinem Traum gesehen hatte. Zu Fäusten geballt.
Und wenn er nun nie wieder aufwacht?, dachte ich. Wenn er für immer …
Die Vorstellung tat so weh, dass ich sie nicht zu Ende denken konnte.
Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Überall war Jérôme. In jeder Ecke sah ich sein Gesicht. In jedem Winkel überfielen mich die Erinnerungen, die nicht die meinen waren, Bilder, die ich nur in meinem Kopf, aber nie in der Realität gesehen hatte.
Ich hielt es nicht mehr länger aus. Mit einem Satz stand ich auf und ging mit raschen Schritten zur Tür. Als ich in die Küche kam, bemerkte ich zwei leere Kaffeetassen auf dem Tisch. War mein Vater etwa schon zu Hause?
Ich ging zur Wohnzimmertür und lauschte angespannt.
Da war meine Mutter. Aber die zweite, männliche Stimme erkannte ich nicht.
Vorsichtig schob ich die Tür auf – und erstarrte, als ich sah, wer da neben meiner Mutter auf dem Sofa saß.
»Anna!« Claudia sprang auf und kam auf mich zu. Sie musterte mich besorgt. »Schatz, du sollst dich doch ein bisschen ausruhen.«
»Was macht der hier?«, sagte ich kalt.
Claudia bedachte mich mit einem unsicheren Blick und lächelte dem Bürgermeister dann entschuldigend zu. »Anna steht unter Schock«, versuchte sie, mein Verhalten zu rechtfertigen.
Herr Krause hob verständnisvoll die Hände. »Das ist doch ganz natürlich. Nach all dem, was sie durchmachen musste.«
Mir wurde kotzübel.
»Warum lässt du den in unser Haus?«
»Anna, bitte!«, sagte meine Mutter empört. »Herr Krause ist hier, um sich nach dir zu erkundigen. Jetzt reiß dich mal zusammen!«
Ich starrte
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