Solange du schläfst
sie fassungslos an. »Ich soll mich zusammenreißen? Sein gestörter Sohn steckt doch hinter der ganzen Sache!«
Claudia schaute mich entsetzt an und Herr Krause schoss ruckartig in die Höhe. »Also das geht nun eindeutig zu weit!« Er straffte die Schultern und eilte an uns vorbei. Im Türrahmen blieb er kurz stehen und wandte sich um. »Sollte Ihre Tochter noch einmal so eine ungeheuerliche Beschuldigung von sich geben, dann behalte ich mir rechtliche Schritte vor, ist das klar?« Damit rauschte er davon.
Das laute Knallen der Haustür ließ mich zusammenzucken und Claudia kraftlos in den Sessel sinken. »Sag mal, war das wirklich nötig?«, fuhr sie mich an.
Aber ich wollte nichts mehr hören, wollte nicht schon wieder diskutieren. Ich wollte nur noch weg.
»Ich muss mal raus«, murmelte ich und verließ fluchtartig das Wohnzimmer. Claudias Rufen überhörte ich einfach. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu ersticken, wenn ich nicht schnell an die frische Luft kam.
Ich lief hinaus, stürmte über den Hof, vorbei an dem Pferdestall. Rannte einfach weiter, ohne Ziel.
Keuchend und schwitzend erreichte ich schließlich den Waldrand. Ich blieb stehen, stützte mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und versuchte, zu Atem zu kommen. Nach einer Weile beruhigte sich mein Puls wieder, und ich überlegte, ob ich weitergehen sollte. Es dämmerte bereits, und der Gedanke, allein im Wald herumzugeistern, war nicht gerade verlockend. Doch dann wusste ich, wo ich hingehen musste, und meine Angst war wie weggeblasen. Entschlossen rannte ich los.
Als ich die Lichtung erreicht hatte, blickte ich mich schweigend um. Tränen liefen mir übers Gesicht, tropften von meinemKinn hinunter ins Gras. Noch vor ein paar Wochen hatte ich hier mit Jérôme gesessen und war glücklich gewesen, so unbeschreiblich glücklich. Die Erinnerung daran zerriss mich innerlich. Ich schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht. Zitternd hockte ich mich hin und umschlang meine Beine. Der Boden war kalt und nass.
Wie konnte das alles geschehen? Warum hatte ich Jérôme überredet, mich zu diesem bescheuerten Fest zu begleiten? Warum hatte ich Konstantin vor den Augen seiner Freunde lächerlich gemacht? Ich hätte es besser wissen müssen. Das alles war meine Schuld. Ich war dafür verantwortlich, was passiert war.
»Jérôme«, flüsterte ich, »es tut mir so leid.«
Ich zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen von den Wangen, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen.
Anna?
, hörte ich plötzlich eine Stimme, ganz weit weg und doch so nah, als würde sie mir ins Ohr flüstern.
Erschrocken fuhr ich hoch und blickte mich um. Aber in der hereinbrechenden Dunkelheit konnte ich niemanden entdecken. Und dann spielte mit einem Mal mein Kreislauf verrückt. In meinen Fingerspitzen begann es zu pochen und zu kribbeln, bunte Lichtpunkte tanzten vor meinen Augen. Dann wurde mir schlagartig heiß.
Anna? Bist du hier?
Ich keuchte, drehte mich panisch im Kreis herum.
»Wer ist da?«, rief ich mit dünner Stimme.
Anna? Anna?
, hallte es in meinem Kopf wider.
Wo bist du? Anna?
Es war, als hätte mir jemand einen Schlag ins Gesicht verpasst, als mir klar wurde, wessen Stimme ich da zu hören glaubte. Ich wurde verrückt, anders konnte es nicht sein. Ichpresste mir die Hände auf die Ohren, suchte fieberhaft den Rand der Lichtung ab. Doch ich wusste, dass die Stimme nicht von dort kam.
»Ich bin hier, Jérôme«, flüsterte ich. »Hier bin ich.«
Dann wurde mir schwarz vor Augen.
22.
Obwohl ich tief und traumlos geschlafen hatte, fühlte ich mich völlig zerschlagen, als ich vom Klingeln des Weckers erwachte. Schlaftrunken warf ich die Decke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Einen Moment blieb ich regungslos sitzen und dachte an das, was gestern Abend auf der Lichtung passiert war. Als ich wieder zu mir gekommen und in der Dunkelheit nach Hause gelaufen war, hatte ich fest daran geglaubt, dass ich Jérômes Stimme gehört hatte, dass er zu mir gesprochen hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Blödsinn. Offensichtlich hatten mir meine Nerven einen Streich gespielt.
Im Bad traf ich auf meinen Vater. Er stand vor dem Waschtisch und rasierte sich. Als er mich in der Tür stehen sah, stellte er den Rasierer aus und machte einen Schritt auf mich zu.
»Wie geht es dir, Anna? Konntest du schlafen?« Er musterte mich besorgt.
Ich nickte stumm. Ich hatte keine Lust, schon wieder zu streiten, wollte nicht noch
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