Solange du schläfst
einmal Carstens Anschuldigungen gegen Jérôme hören.
»Anna«, begann mein Vater, »wegen gestern Abend: Ich hätte dich nicht gleich so anmotzen dürfen, als du nach Hause gekommen bist.«
Ich nickte wieder. Sagte aber nichts.
»Ich habe mir Sorgen gemacht. Und Claudia auch. Einfach so aus dem Haus zu rennen und dann erst im Stockdunkeln wieder aufzutauchen, so geht das nicht.«
»Das hast du gestern Abend schon gesagt.«
»Stimmt. Ich wollte es nur noch einmal klarstellen.«
»Kommt nicht wieder vor«, sagte ich mit ruhiger, fester Stimme. Ich schaffte es sogar, ihn anzulächeln. Danach verzog ich mich schnell in mein Zimmer.
Als ich kurz darauf eine Autotür zuschlagen und einen Motor starten hörte, wagte ich mich endlich ins Bad.
Zwei Stunden später parkte meine Mutter ihren Wagen auf dem Bremer Krankenhausparkplatz.
»Ich möchte allein reingehen«, sagte ich, als sie den Motor abgestellt hatte.
Claudia sah mich skeptisch von der Seite an. »Und wenn sie dich nicht zu ihm lassen? Vielleicht ist es besser, wenn ich …«
Ich hob abwehrend die Hände. »Bitte, lass mich einfach allein gehen«, wiederholte ich. »Kannst du nicht irgendwas in der Stadt erledigen? Um zwölf treffen wir uns dann wieder hier. Und wenn ich nicht zu Jérôme darf, dann warte ich in der Cafeteria auf dich.«
Ich warf meiner Mutter einen beschwörenden Blick zu. Schließlich hob sie kapitulierend die Schultern. Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Danke!« Dann stieg ich aus und steuerte zielstrebig durch den Haupteingang auf den großen Informationsschalter zu.
Gestern hatten wir Jérômes Tante und Onkel direkt in der Eingangshalle getroffen, weiter waren wir nicht gekommen. Nun musste ich zunächst herausfinden, auf welcher Station Jérôme untergebracht war.
Der Mann hinterm Schalter gab mir bereitwillig Auskunft, und ich beschloss, das als gutes Omen zu nehmen. Fast ein wenig beschwingt lief ich zu den Fahrstühlen hinüber, drückte mehrere Knöpfe auf einmal und wartete darauf, dass sich eine der Türen öffnete.
Bald darauf stand ich vor der Intensivstation und legte meinen Zeigefinger auf den kleinen weißen Klingelknopf. Die Tür öffnete sich und eine junge Krankenschwester erschien.
»Guten Tag. Ich möchte zu Jérôme Sanon.« Und weil die Schwester nicht sofort etwas erwiderte, fügte ich schnell hinzu: »Ich bin seine Freundin.«
Die Krankenschwester musterte mich mit ausdrucksloser Miene. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Einen Augenblick, da muss ich erst nachfragen. Soweit ich informiert bin, dürfen nur Familienangehörige zu ihm.«
Die Tür schloss sich wieder und ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Familienangehörige. Ich war seine Freundin, hatte ich da etwa kein Recht, ihn zu sehen?!
Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete sich die Tür erneut, und die Schwester gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. »Du kannst zu ihm. Aber nur kurz.«
Ich atmete erleichtert auf und folgte ihr in einen kleinen Raum. Dort musste ich eine grüne Schutzkleidung überziehen. Zum Schluss gab die Schwester mir noch einen Mundschutz. »Den bitte auch anlegen.«
Ich nickte, griff mit zittrigen Fingern danach und folgte ihr in einen weiteren Raum mit einer großen Glasfront.
»Warte bitte hier«, forderte die Schwester mich auf und verschwand durch die Tür in den dahinterliegenden Raum. Unsicher trat ich näher an das Fenster heran.
Ich sah eine schmale Gestalt in einem Krankenbett liegen. Der Kopf war in einen Verband eingewickelt, nur Stirn, Nase, Mund und Augen lagen frei. Eine Vielzahl von blinkenden Geräten befand sich im Raum, Schläuche und dünne Kabel führten in den reglosen Körper.
Ich sah ihn und konnte es doch nicht glauben. Nein, das konnte einfach nicht Jérôme sein, der dort lag.
Unwillkürlich legte ich eine Hand gegen die Glasscheibe. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Das da war mein Jérôme und doch kam er mir vor wie ein Fremder. Ich starrte so gebannt zu ihm hinüber, dass ich überhaupt nicht bemerkte, dass die Krankenschwester nun wieder neben mir stand. Sie räusperte sich leise und legte mir eine Hand auf die Schulter. Erschrocken zuckte ich zusammen.
»Geht es oder möchtest du dich kurz hinsetzen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung«, sagte ich mit rauer Stimme.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sich noch jemand neben der Schwester befand. Und obwohl ich wegen des Mundschutzes nur die Augen
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