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Solange du schläfst

Solange du schläfst

Titel: Solange du schläfst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Szillat
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erkennen konnte, wusste ich sofort, wer es war: Jérômes Mutter.
    Sie streckte die Arme aus, machte einen Schritt auf mich zu und zog mich dann fest an sich. Nun konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Ich vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter. Jérômes Mutter sagte nichts, strich mir nur sanft über den Rücken und wartete, bis ich mich wieder beruhigt hatte und mein Körper aufgehört hatte zu beben. Dann löste sie ihre Umarmung, umfasste meine Schultern und schautemir in die Augen. »Wollen wir zu ihm gehen? Er wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«
    Ist er denn aufgewacht?, hätte ich beinah gesagt und biss mir auf die Lippen, als mir klar wurde, wie dumm diese Frage war. Ich nickte zaghaft.
    Und dann stand ich vor ihm und blickte in sein Gesicht. Ich erkannte seine Augen, seine Nase, den Mund, der mich so oft mit seinem Grübchenlächeln verzaubert hatte. Ich wollte ihn so gern berühren, ihn streicheln, irgendetwas tun, damit er die Augen aufschlug, mich anlächelte und sagte: »Hallo, Anna. Wie schön, dass du da bist.«
    Es gab nichts, was ich mir in diesem Moment mehr gewünscht hätte. Aber gleichzeitig wäre ich am liebsten weggerannt. Denn obwohl ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Jérôme zu berühren, fühlte es sich an, als lägen Welten zwischen uns.
    Jérômes Mutter schien meine Gedanken zu erraten, denn sie forderte mich auf, näher zu kommen und Jérômes Hand zu nehmen.
    Ich zögerte, schaute sie unsicher an, aber als ich das aufmunternde Lächeln in ihren Augen sah, gab ich mir einen Ruck. Zaghaft streichelte ich seine Finger und das kleine Stückchen Hand, in das kein mit weißem Leukoplast beklebter Schlauch hineinführte.
    Jérômes Haut war warm und fest, so als ob überhaupt nichts wäre. Als ob er einfach nur ruhig daliegen und schlafen würde. Aber so war es ja auch, dachte ich: Jérôme schlief tief und fest. Und ganz plötzlich war er wieder bei mir und keine Distanz mehr zwischen uns.
    »Jérôme«, flüsterte ich. »Jérôme, hörst du mich? Ich bin’s, Anna.«
    Ich wusste, dass Jérôme im Koma lag, und doch rechnete ich damit, dass er gleich die Augen aufschlagen und mich anlächeln würde. Und als das nicht geschah, brannte die Enttäuschung in mir wie die Tränen auf meinen Wangen.
    Etwas später saßen Jérômes Mutter und ich uns in der Krankenhauscafeteria gegenüber. Es war, als ob ich Jérômes große Schwester vor mir hätte. Seine Mutter wirkte so jung und trotz ihrer Sorge um Jérôme war sie ganz ruhig und gelassen. Ihre Stimme klang sanft, und wenn sie sprach, dann kam mir das so vertraut vor, als würde ich sie schon mein Leben lang kennen. Die Art, wie sie mich anschaute, wie sie lächelte und sich dabei zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen bildeten, versetzte mir jedes Mal einen kleinen Stich.
    Wir sprachen über Jérôme und wie wir uns kennengelernt hatten. Anscheinend hatte er seiner Mutter am Telefon schon viel von mir erzählt, was mich insgeheim freute. Dann schwiegen wir eine Weile und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
    »Sabine, was wird mit Jérôme? Wird er wieder aufwachen?«, fragte ich plötzlich in die Stille hinein. Ich hatte schon eine ganze Zeit damit gerungen, diese Frage zu stellen, weil ich nicht wusste, ob ich die Antwort darauf wirklich hören wollte.
    Sabine schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Das kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht beantworten. Es gibt viele positive Faktoren, die für Jérômes Genesung sprechen: Er ist jung und sein Herz arbeitet tadellos. Aber als Ärztin weiß ich auch, dass die massiven Hirnschädigungen sicher ihre Spuren hinterlassen werden, auch wenn er aus dem Koma erwacht. Es ist möglich, dass er alles neu erlernen muss. Dennoch darfst du die Hoffnung nicht aufgeben, Anna.«
    Sabine wirkte nach außen stark und gefasst, doch an ihrer zitternden Unterlippe konnte ich erahnen, wie es in ihr aussah, dass auch sie vor Sorge um Jérôme fast umkam. Sie atmete tief durch und ergriff meine Hand. Einen Moment lang betrachtete sie sie nachdenklich, bevor sie sagte: »Weißt du, dass Jérôme vorhin, als du seine Hand berührt hast, darauf reagiert hat? Er hat es gespürt.«
    »Wie kommst du darauf?«, fragte ich erstaunt.
    »Ich konnte am EKG-Monitor sehen, dass sich seine Herzfrequenz beschleunigt hat.«
    »A-aber wie … das …«, stammelte ich.
    »So etwas lässt sich manchmal bei engen Bezugspersonen nachweisen«, sagte Sabine und hatte plötzlich einen

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