Solange du schläfst
galoppierte Rashun los.
Ich beugte mich nach vorn und vergrub mein Gesicht in seiner dichten Mähne. Das rhythmische Donnern seiner Hufe hallte in meinem Kopf wider. Wir preschten den Waldweg entlang, wurden schneller und schneller. Als wir auf eine Weggabelung zusteuerten, versuchte ich, das Tempo zu drosseln.
»Ruhig, Rashun. Ruhig!«, rief ich gegen den Wind an. Ich nahm die Zügel wieder auf und zog energisch daran. »Langsam, mein Junge!« Doch Rashun reagierte nicht. Er lief wie von Sinnen weiter.
Ich richtete mich auf, lehnte mich weit im Sattel zurück und zog mit aller Kraft an den Zügeln. Ich wusste, dass ich ihn am besten in kleiner werdende Kreise lenken sollte, um ihn zu beruhigen. Nur dafür musste erst einmal Platz sein auf dem schmalen Waldweg. Noch einmal stellte ich mich in die Steigbügel und legte mein ganzes Gewicht in die Zügel. Ohne Erfolg. Hilflos musste ich mit ansehen, wie wir uns der Weggabelung näherten.
Er kann bei diesem Tempo nicht wenden, dachte ich. Er wird das Gleichgewicht verlieren und stürzen.
Panik breitete sich in mir aus. Ich war wie gelähmt, konnte nur noch darauf warten, dass ich abgeworfen wurde.
Schließlich hatten wir die Gabelung erreicht. Ich glaubte schon, dass Rashun den Weg verlassen und einfach geradeaus weitergaloppieren würde, aber dann warf er sich mit einer solchen Heftigkeit nach links, dass ich beinah aus dem Sattel geflogen wäre. Wie ich befürchtet hatte, rutschte er seitlich weg und kämpfte darum, die Balance zu halten. Der weiche Sandboden prasselte unter seinen Hufen zur Seite, und einen furchtbaren Augenblick lang sah es so aus, als ob er das Gleichgewicht verlor und wir zu Boden stürzen würden. Ich verlagerte mein Gewicht, so gut es ging, auf die andere Seite. Rashun strauchelte noch einmal kurz, aber dann gelang es ihm, wieder Fuß zu fassen.
Das alles hatte nur einen Bruchteil von Sekunden gedauert, aber es hatte ausgereicht, damit Rashun zur Besinnung kam. Ganz verwirrt, heftig schnaufend, mit hängendem Kopf und schweißnasser Brust blieb er mitten auf dem Weg stehen.
Ich rutschte in den Sattel zurück, sortierte Zügel und Steigbügel, klopfte Rashun beruhigend den Hals und lenkte ihn im Schritt nach Hause.
»Schon gut, mein Junge. Alles ist gut …«, redete ich unermüdlich auf ihn ein.
Von einem Moment auf den anderen spürte ich, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht wich. Mir wurde kotzübel. Erst jetzt wurde mir richtig klar, wie schlimm es für mich hätte enden können.
Ich atmete zitternd aus.
Wenn ich gestürzt wäre und wenn ich diesen Sturz nicht überlebt hätte, wäre das wirklich so schlimm gewesen?, dachte ich plötzlich. Hatte mein Leben ohne Jérôme überhaupt noch einen Sinn? Wie sollte ich jemals wieder glücklich sein, wenn er nicht mehr bei mir war?
Nur drei Monate hatten wir zusammen gehabt. Drei kurze Monate. Aber es war die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es ohne ihn für mich weiterging.
Warum war ich nicht einfach vom Pferd gestürzt!?
27.
Ich lag in Jérômes Armen. Wir tanzten miteinander und Jérôme lächelte mich glücklich an. Sein warmer Atem streifte meine Haut, und mit den Händen zog er mich so nah zu sich heran, dass unsere Körper miteinander verschmolzen. Wir bewegten uns im gleichen Takt, rhythmisch, leidenschaftlich – völlig berauscht voneinander.
»Anna …« Jérôme brach ab, den Blick auf etwas gerichtet, das hinter mir lag. Er runzelte die Stirn. Dann holte er tief Luft und rief mit fast tonloser Stimme: »Hau ab! Los, verschwinde!«
Ich löste mich ein wenig aus der Umarmung und wandte den Kopf.
Da sah ich den Schatten. Eine dunkle Gestalt ohne Gesicht. Angst erfasste mich. Ich schluckte schwer, um den Kloß loszuwerden, den ich auf einmal im Hals hatte.
Jérôme machte einen Schritt zur Seite. Er presste die Fäuste an die Stirn und stöhnte vor Schmerz auf.
Ich hielt ihn fest umklammert, ließ ihn nicht aus den Augen.
Der Schatten kam langsam auf uns zu.
»Hau ab!« Jérômes Stimme klang ganz heiser. Aber der Schatten zögerte nicht einen Augenblick, sondern griff nach seinem Arm und zog ihn mit sich fort. Ich wollte Jérôme zurückhalten, doch schließlich entglitt er mir.
»Nein!«, schrie ich. »Bleib hier! Du darfst nicht mit ihm gehen!«
Plötzlich kam der Schatten zurück. Ohne Jérôme. Ich versuchte, nach ihm zu schlagen. Ich trat und boxte wild um mich, aber egal wie sehr ich mich auch anstrengte,
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