Solange es hell ist
Gesellschaft erwartet wurden, die Lady Chatterton an diesem Abend gab.
Obwohl Poirot ständig über gesellschaftliche Verpflichtungen klagte und sich nach Einsamkeit zu sehnen behauptete, genoss er derartige Veranstaltungen ungemein. Im Blickpunkt des Interesses zu stehen und umschwärmt zu werden gefiel ihm über alle Maßen.
Gelegentlich schnurrte er geradezu vor Behagen! Ich habe ihn mit unbewegter Miene die übertriebensten Komplimente entgegennehmen sehen, als wären sie nicht mehr als das, was ihm gebührte, und die ungeheuerlichsten selbstgefälligen Bemerkungen machen hören, die wiederzugeben sich mir die Feder sträubt.
Gelegentlich debattierte er mit mir über dieses Thema.
»Aber mein lieber Freund, ich bin kein Angelsachse. Warum soll ich den Heuchler spielen? Si, si, genau das tun sie, sie alle. Der Flieger, der einen schwierigen Flug gemacht hat, der Sieger beim Tennis – sie rümpfen die Nase, sie murmeln etwas davon, dass das ›nichts Besonderes‹ ist. Aber denken sie das wirklich? Nicht eine Sekunde! Bei einem anderen würden sie diese Leistung bewundern. Und da sie vernünftige Männer sind, bewundern sie sie auch bei sich. Aber ihre Erziehung hindert sie daran, es offen zu sagen. Ich, mon ami, ich bin anders. Die Fähigkeiten, die ich besitze – ich würde sie schätzen bei einem anderen. Wie es sich trifft, gibt es in meinem Metier keinen, der mir gleichkommt. C’est dommage! Und darum gestehe ich offen und ohne jede Heuchelei, dass ich ein großer Mann bin. Ich verfüge in einem ungewöhnlichen Maße über die Ordnung, die Methode und die Psychologie. Ich bin nun einmal Hercule Poirot! Warum soll ich erröten und stammeln und in meinen Bart brummen, dass ich eigentlich sehr dumm bin? Das wäre nicht die Wahrheit.«
»Es gibt in der Tat nur einen Hercule Poirot«, stimmte ich ihm zu – nicht ohne eine Prise Boshaftigkeit, die Poirot jedoch glücklicherweise völlig entging.
Lady Chatterton gehörte zu Poirots glühendsten Verehrerinnen. Ausgehend von dem rätselhaften Verhalten eines Pekinesen, hatte er eine Beweiskette entwirrt, die zu einem berüchtigten Dieb und Einbrecher führte. Seit damals hatte Lady Chatterton laute Loblieder auf ihn gesungen.
Poirot auf einer Gesellschaft zu beobachten war ein besonderes Erlebnis. Sein tadelloser Frack, der perfekte Sitz seiner weißen Fliege, der wie mit dem Lineal gezogene Mittelscheitel, der Glanz von Pomade auf seinem Haar und die gezwirbelte Pracht seines berühmten Schnurrbarts – alles verband sich zu der perfekten Verkörperung des unverbesserlichen Stutzers. In solchen Augenblicken fiel es schwer, den kleinen Mann ernst zu nehmen.
Es war etwa halb zwölf, als Lady Chatterton auf uns zusteuerte, Poirot geschickt einem bewundernden Kreis entführte und mit ihm entschwand – mit mir im Schlepptau, wie ich wohl kaum zu betonen brauche.
»Ich möchte, dass Sie in mein kleines Wohnzimmer hinaufgehen«, sagte Lady Chatterton etwas atemlos, kaum dass wir außer Hörweite der anderen Gäste waren. »Sie wissen ja, wo es ist, Monsieur Poirot. Sie werden dort eine Person vorfinden, die dringend Ihrer Hilfe bedarf, und ich weiß, dass Sie ihr helfen werden. Sie ist eine meiner liebsten Freundinnen. Sagen Sie nicht nein.«
Während sie sprach, hatte uns Lady Chatterton energisch nach oben geführt, wo sie eine Tür aufriss und dabei ausrief: »Ich habe ihn, Marguerita, mein Schatz! Und er wird alles tun, was du willst. Sie werden Mrs Clayton doch helfen, Monsieur Poirot, nicht wahr!«
Und seine Zustimmung als selbstverständlich voraussetzend, zog sie sich ebenso energisch zurück, wie sie alles tat.
Mrs Clayton hatte in einem Sessel am Fenster gesessen. Sie erhob sich und kam auf uns zu. Sie trug Trauer, und das matte Schwarz ihrer Kleidung unterstrich ihren hellen Teint. Sie war eine hinreißend schöne Frau und besaß eine naive, kindliche Freimütigkeit, die ihr einen unwiderstehlichen Charme verlieh.
»Alice Chatterton ist wirklich furchtbar lieb«, sagte sie. »Sie hat dieses Treffen arrangiert. Sie sagte, dass Sie mir helfen würden, Monsieur Poirot. Natürlich weiß ich nicht, ob Sie es tun werden – aber ich hoffe es.«
Sie hatte die Hand ausgestreckt, die Poirot nun ergriff. Er hielt sie einen Moment lang fest, während er Mrs Clayton forschend betrachtete. Die Art, wie er dies tat, hatte nichts Ungehöriges. Es war eher der freundliche, aber prüfende Blick, mit dem ein berühmter Spezialist einen neuen Patienten mustert,
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