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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Mail von Melissa. »Muss nur kurz was überlegen. Aber ich habe keinen Hunger. Zu heiß. Bedien dich.«
    Er schob seinen Teller rüber, und Toby machte sich an seinen einundzwanzigsten Pfannkuchen, während Beard, nachdem er eine halbe Minute lang gezögert hatte, Melissas Mail aufklickte. Er fand, die sollte er noch lesen, bevor er erschossen wurde.
    Michael, ruf mich an, bitte. Ich muss mit Dir über unseren letzten Abend reden.
    Unseren letzten Abend? Was sollte das denn? Dann fiel ihm Terry ein, der symphonische Liebhaber. Sie hatte mit Terry Schluss gemacht, oder sie wollte ihn heiraten. Beard konnte sich im Augenblick nicht entscheiden, was von beidem ihm lieber wäre. Falls Letzteres zutraf, würde er in Darlenes Wohnwagen untertauchen. Gegen sie käme Tarpin nicht an. Oder er brachte sie beide um. Seine Gedanken überschlugen sich, er war jetzt nicht in der Verfassung, sich mit Melissa über Herzensangelegenheiten auszutauschen. Genau genommen war er das nie. Er scrollte die Absender der anderen siebenundzwanzig Nachrichten durch - alle bis auf eine bezogen sich auf seine Arbeit, zumeist in der reinen, erhabenen Sphäre der künstlichen Photosynthese. Die von Darlene machte er auf.
    Komm schnell! Muss dir was erzählen!!!
    Er hatte dieses ständige Abgelenktwerden nicht verdient. Sie umzingelten ihn: Frauen, ein Anwalt aus Albuquerque, ein Verbrecher aus dem Londoner Norden, seine aus dem Takt geratenen Körperzellen - alles hatte sich gegen ihn verschworen, um sein Vermächtnis an die Welt zu sabotieren. Nichts davon war seine Schuld. Man sagte von ihm, er sei genial, und das stimmte, er war ein Genie, das Gutes tun wollte. Sein Selbstmitleid schenkte ihm ein wenig Trost. Er und Toby waren für den Nachmittag mit den Ingenieuren verabredet, um ein letztes Mal das Gelände zu inspizieren. Danach würde Beard vor dem versammelten Team eine Rede halten. Sie sollten jetzt aufbrechen. Doch fuhr er auf Lordsburg zu, dann fuhr er auch Tarpin entgegen. Beim Anblick von Hammers Pfannkuchen - oder genauer, als er sah, wie viele davon sein Freund verschlang, sirupgetränkt und mit Streifen halbverbrannten Schweinespecks belegt - wurde ihm übel. Er murmelte eine Entschuldigung und ging zur Toilette; vielleicht konnte er wieder klarer denken, wenn es ihm gelang, sich zu übergeben. Leicht vorgebeugt wie ein beflissener Kellner stand er über der Kloschüssel und wartete. Wie blitzsauber die war, wo doch ein wenig Ekel, die schokobraunen Arabesken fremder Exkremente, ihm hätte helfen können, seinen Magen zu entleeren. Es kam nichts. Er richtete sich auf und betupfte seine Stirn mit einem Papiertaschentuch. Was tun? Entweder war sein Leben wirklich in Gefahr, oder er war ein hysterischer Feigling. Eins stand jedenfalls fest - Tarpin war auf dem Weg zu ihm. Das verhieß mit Sicherheit nichts Gutes. Womöglich saß er bereits in einem Lordsburger Motel auf der Bettkante und ölte seine Waffe. Motiviert war er auf alle Fälle. Für einen ehemaligen Sträfling war es aus psychologischen, logistischen und auch finanziellen Gründen gar nicht so einfach, in der Weltgeschichte herumzufliegen. Er musste auf dem Formular für das Touristenvisum seine kriminelle Vergangenheit verschweigen. Niemand würde davon etwas ahnen. Panik war also durchaus angebracht. Das Schlauste wäre, sich zu verdrücken. Er könnte Bescheidenheit vorschützen und die Abwicklung der Einweihungsfeier Toby überlassen, er selbst könnte zum Beispiel nach Sao Paulo fliegen, wo eine Frau, die er kannte, Sylvia, eine hervorragende Physikerin, ihn nur zu gern bei sich aufnehmen würde. Er betätigte die Spülung, wusch sich langsam die Hände und versuchte zu einem Entschluss zu kommen, bevor er an den Tisch zurückkehrte. Ja, Sao Paulo, schön und gut, aber er konnte kein Portugiesisch. Er konnte nicht ewig dort bleiben. Darlene würde ihm fehlen. Also was tun?
    Hammer war schon aufgestanden und zahlte gerade. Nur noch vier Pfannkuchen, ein zerfledderter Speckstreifen und ein Zahnstocher lagen auf dem beschmierten Teller. Die Riesensirupflasche war leer. Ein Wunder, wie dieser Mann seine Figur behielt. Er sagte: »Wir werden in vierzig Minuten erwartet und haben noch fünfundvierzig Meilen vor uns. Fahren wir!«
    Da Beard keine Erwiderung einfiel, folgte er seinem Freund verdrossen auf den sonnengrellen Parkplatz und zum Auto.

    Sie fuhren nach Norden durch die karge Landschaft zurück Richtung Interstate, ohne zu reden, Hammer pfiff nur am Steuer vor sich

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