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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hinauswolle.

    Lieber Michael,
    vielleicht weißt Du es schon, aber falls nicht, solltest Du wissen, dass Rodney vor fünf Wochen aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er hat versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich will gar nicht davon anfangen, was für verrückte Ideen er hat. Charles' Anwalt hat bei Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt; danach kommt Rodney wieder in Haft, wenn er anruft oder schreibt oder sich unserem Haus auf 1oo Meter nähert. Jetzt habe ich gerade über zwei Ecken von Freunden gehört, dass er in die Staaten geflogen ist, um nach Dir zu suchen. Vielleicht will er sich persönlich bei Dir bedanken, dass Du bei dem Prozess gegen ihn ausgesagt hast! Auf alle Fälle solltest Du gewarnt sein. Morgen fangen die Schulferien an, dann fahren wir alle auf die Shetlands, um uns durchregnen zu lassen.
    Alles Gute
    Patrice

    Aha! Der Tapir vom Camino Real. Es zählte zu den kuriosen Qualitäten der englischen Justiz, dass Mörder bei guter Führung nur die Hälfte ihrer Strafe absitzen mussten. Wer im Internet nach Beards Namen suchte, stieß ohne weiteres auf Lordsburg und das Testgelände. Was tun? Trotz Klimaanlage traten ihm Schweißperlen auf die Oberlippe, und er verspürte eine so starke Beklemmung in der Brust, dass es ihm die Kehle zuschnürte.
    Die Pfannkuchen kamen, zwei Stapel zu je zwanzig Stück, wie die freundliche Bedienung sagte, dazu eine große Flasche Ahornsirup, um sie damit zu beträufeln, ein Berg Speckstreifen sowie Kaffeenachschub von hellstem Braun.
    »Nirwana!«, sagte Hammer und klatschte in die Hände, noch immer in der guten Stimmung, die Beard schlagartig im Stich gelassen hatte.

Er hatte immer gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde, hatte sich an den Gedanken gewöhnt, hatte sich außerdem gute Chancen ausgerechnet, dass Tarpin die Strafe komplett absitzen musste, dass die Zeit über alles hinweggehen und das Gefängnis ihn schwächen würde, dass seine Rachegelüste sich wenn überhaupt gegen Patrice richten würden, schließlich war sie es, die ihn bei dem Prozess in die Pfanne gehauen hatte. Tatsächlich bestand Beards wahre Leistung, ein Geniestreich der Selbsttäuschung, darin, mehr oder weniger fest daran zu glauben, dass Tarpin, weil er gewalttätig war, weil er vor Gericht gestellt und für schuldig befunden worden war und mit anderen Verurteilten im Gefängnis saß, dadurch gleichsam schuldig wurde, und nicht nur das, sondern dass er das auch einsah und sich mit seinem Schicksal abgefunden haben würde. Beard hatte schließlich niemanden umgebracht, seine Aussage vor Gericht war hieb- und stichfest, sein Alibi vom Physikalischen Institut perfekt. Mit den Jahren erschienen ihm die Ereignisse am Vormittag seiner Rückkehr aus der Arktis immer mehr wie ein Traum, unbeweisbar, ohne Konsequenzen. Doch unterhalb dieses Anscheins lagerten einer undurchlässigen Felsschicht gleich andere Annahmen, nein Gewissheiten, die genauer zu durchdenken ihm durch sein geschäftiges Leben erspart geblieben war. Damals hatte Beard befürchtet, dass die Polizei und Patrice in ihm, dem eifersüchtigen Ehemann, Aldous' Mörder vermuten würden, und auf diesen Gedanken musste auch Tarpin kommen. Wer anderes als Beard hätte ihm die Tat mit dem Werkzeug aus seiner Tasche anhängen können? Was also würde ein zu Unrecht verurteilter, gewalttätiger Mann, der seine Wut acht Jahre lang täglich im Kraftraum des Gefängnisses gestählt hatte, nach seiner Entlassung tun? An Billigflügen nach Dallas herrschte kein Mangel.
    Solange der Sheriff und dessen Freund am Nebentisch saßen, fühlte Beard sich sicher. Trotzdem, als die Eingangstür mit lautem Krachen aufschwang, fuhr er zusammen, und seine Beklemmung nahm zu. Es waren vier Teenager, drei Jungen und ein Mädchen, die sich an den zwei Ordnungshütern nicht störten und lärmend Cola verlangten. Sie begrüßten einander wie Familienmitglieder. Möglicherweise waren auch zwei Bewaffnete gegen Tarpin machtlos. Womöglich würde er Beard in aller Öffentlichkeit abknallen und, nachdem diese Rechnung beglichen war, den Rest seines Lebens mit morbider Genugtuung im Knast verbringen. In diesem Teil der Welt herrschte kein Mangel an Schusswaffen, die bekam man hier so problemlos wie Angelgerät.
    »Willst du nicht essen, Chef?« Hammer hatte seinen Stapel bereits verputzt. »Schlechte Nachrichten von zu Hause?«
    »Nein, nein«, sagte Beard mechanisch und bemerkte gleichzeitig unter der von Patrice eine als dringend gekennzeichnete

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