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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Polizei ist hier. Du musst nach Hause kommen.«
    Er fragte: »Patrice, was ist los?«
    Sie legte eine Hand auf den Hörer. Er hörte undeutlich eine Männerstimme, dann wieder sie: »Komm einfach her.«
    »Ist eingebrochen worden?«
    Wieder irgendwelche Stimmen. Anscheinend waren Dutzende von Leuten im Haus. Sie fing an, sich mit derselben tonlosen Stimme zu wiederholen, schrie aber plötzlich auf, als habe sie jemand in den Arm gestochen, und wimmerte:
    »Es war Rodney, er hat jemand umgebracht...« Eine Männerstimme fuhr ihr dazwischen: »Mrs Beard...« Dann war die Leitung tot.
    Beard ging an seinen Leseplatz zurück, sammelte die Notizen ein, die er sich so sorgfältig gemacht hatte, eilte über den Hof der Bibliothek an Paolozzis Newton-Statue vorbei, und erst als er auf der Straße nach einem Taxi winkte, fiel ihm wieder ein, was er sich Stunden zuvor zurechtgelegt hatte: Es würde einen besseren Eindruck machen, wenn er mit seinem Gepäck nach Hause käme. Er ließ das Taxi vor dem Physikalischen Institut an der Portland Place warten, ging hinein und dankte dem Mann, der auf sein Gepäck aufgepasst hatte. Auf der Fahrt nach Belsize Park überlegte Beard, ob die Tatsache, dass er nicht direkt nach Hause hetzte, sondern einen Umweg machte, um sein Gepäck zu holen, ob dies einer der Punkte, der vierte oder fünfte, gewesen sein mochte, die er nicht hatte vergessen dürfen. Er kam mit dem Gedanken nicht weiter.

    Viermal wurde er ausführlich vernommen, doch seine letzte Aussage unterschied sich in nichts von der ersten. Unter dem anhaltenden Druck einer polizeilichen Vernehmung ist Aufrichtigkeit eine feine, unantastbare Sache, zumal Beard als Mann der Wissenschaft automatisch auf eine widerspruchsfreie Darstellung achtete. Die Wahrheit stand unerschütterlich fest. Er brauchte sich nicht ins Gedächtnis zu rufen, was er beim letzten Mal erzählt hatte, sondern kam immer wieder auf seine ursprüngliche Fassung zurück. Also, ja, er sei frühmorgens in Oslo abgeflogen und um acht in Heathrow gelandet. Dort habe er sich für ein Taxi angestellt - die einzige Erfindung, von da an ging es nur noch darum, was er wegließ -, dann sei er auf der M4 in einen langen Stau geraten und erst am späteren Vormittag an der Portland Place eingetroffen. Er hatte in Heathrow schon oft ein Taxi genommen und hatte schon oft im Stau gesteckt; das Gedächtnis war wachsweich, schon bald hatte die erfundene Geschichte sich ihm ebenso tief eingeprägt wie jede echte Erinnerung, war verschwommen und deutlich zugleich. Er glaubte wirklich, im Stau eine Stunde verloren zu haben. Was er während der langen Taxifahrt getan habe? Er habe einen Aufsatz gelesen, den er begutachten müsse. Voll konzentriert. Von dem Stau auf der Mittelspur oder Überholspur, oder wo immer der gewesen sein mochte, habe er keine Notiz genommen. Alles andere waren überprüfbare Tatsachen - sein kurzer Besuch im Physikalischen Institut, seine Arbeit in der Bibliothek, schließlich der Anruf von Patrice, als er gerade eine Pause machte. Quälend aufrichtig gab er zu, dass er von der Affäre seiner Frau mit Mr Tarpin gewusst und sich sehr darüber aufgeregt habe. Doch habe er, Beard, selbst viele Affären gehabt, so sei das bedauerlicherweise nun einmal in ihrer Ehe, die jetzt ohnehin wohl am Ende sei. Ohne die Wahrheit zu verbiegen, erzählte er von ihrem blauen Auge, von seinem Besuch in Cricklewood am Sonntagmorgen, von der Konfrontation und dem Schlag ins Gesicht, und wie er dann, Gewalt nicht gewohnt, das Weite gesucht hatte. So peinlich ihm das war, schilderte er dem Kriminalinspektor in allen Einzelheiten jenen Nachmittag, an dem er Tom Aldous seiner Frau vorgestellt hatte, und, nein, er habe nicht bemerkt, dass die beiden etwas miteinander hatten, und, nein, er habe es nie für möglich gehalten, dass Patrice mit Aldous ins Bett gehe, während er, Beard, in der Arktis war oder gar, wer weiß, womöglich schon seit Monaten. Und, ja, natürlich kenne er den Jungen, diesen brillanten Nachwuchswissenschaftler, der ihn oft in Reading vom Bahnhof abgeholt habe. Nein, nicht direkt sympathisch. Zu sehr von sich eingenommen, zu borniert, zu wenig gewandt in Gesellschaft. Aber Spezialisten wie er seien häufig so.
    Obwohl er praktisch nur die Wahrheit sagte, strengten die Vernehmungen ihn an; bei der ersten war ihm ausgesprochen mulmig zumute, da er nicht sicher sein konnte, ob nicht doch jemand beobachtet hatte, dass er um zehn sein Haus betreten und es

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