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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ihm war, als müsse sie für ihn erst ein Begrüßungsgesicht aufsetzen. Dann lagen sie einander in den Armen, und der Eindruck verflüchtigte sich. Sie brachte einen Schwall warmer, nach Bienenwachs riechender Luft mit auf die kalte Schwelle, worein sich der Duft von Gewürzen und ihrem Parfüm mischte. Eins seiner Mitbringsel aus irgendeiner blitzblanken Flughafenhölle. Sie rief seinen Namen, er den ihren, sie küssten sich, lösten sich aus der Umarmung, um sich in die Augen zu sehen, und umschlangen sich wieder.
    Während er sie in den Armen hielt, spürten seine Handflächen durch die rote Seidenbluse hindurch die Wärme ihrer Haut. Wie verschwommen und blass die Erinnerung doch im Vergleich zur Gegenwart war. Fern von ihr konnte er ihre vor Leben sprühende, schlichte, überwältigende Präsenz nur schemenhaft heraufbeschwören, ja meist war er sogar dafür zu beschäftigt. Er vergaß, wie ihr Mund sich anfühlte, ihre Zunge, ihr Körper, wie sich ihr Körper bog, um den Größenunterschied beim Küssen auszugleichen, wie ihre Finger zwischen seinen lagen, das Federn der Knöchel, die kühle Glätte der Haut, die Länge und der Umfang ihrer Finger und das leicht erhabene Muttermal unterhalb des Knöchels ihres linken kleinen Fingers - oder auch wie stark seine Brust, wenn sie einander umarmten, auf den Druck ihrer Brüste reagierte. Und das alles betraf nur die Berührungen. Wie sie aussah, klang, schmeckte - vertraut natürlich - aber so richtig vertraut erst wieder hier und jetzt in seinen Armen. Das Gedächtnis, jedenfalls Beards Gedächtnis, taugte nicht recht. Wenn er in Berlin oder Rom an sie dachte, geschah das nur mit Bezug auf ihn selbst, aus einem allgemeinen Verlangen heraus, er dachte dann an sie als Frau, als abstraktes geschlechtliches Wesen, und er dachte an sein eigenes Vergnügen, nicht an den warmen Honigduft ihrer Kopfhaut, die überraschend große Kraft ihrer Arme, oder daran, wie tief sie die Stimme senkte, wenn sie seinen Namen aussprach.
    »Michael Beard. Komm auf der Stelle ins Haus!«
    Dieser alte Scherz erinnerte ihn immer an den barschen Elternton vergangener Zeiten. Er selbst hatte nie die Gelegenheit, sie so ruppig hereinzubitten, denn seine Chaotenwohnung war kein Ort, an den man eine Frau wie Melissa Browne einladen konnte. Sie würde sich dort erst wohl fühlen, wenn sie Ordnung hineingebracht hätte, und das war noch so eine Grenze, die er nicht überschreiten wollte. Sie nahm sein Gepäck, und er folgte ihr hinein. Die Tür fiel ins Schloss, sie standen im makellosen Wohnzimmer, Melissa legte ihm ihre Arme um den Hals, er zog sie fest an sich, und wieder küssten sie einander. Ausnahmsweise schien es, als könnten sie einmal ohne den zur Feinabstimmung obligatorischen Smalltalk auskommen, das Essen verschieben und gleich ins Schlafzimmer gehen. Dann aber kam aus der Küche ein energischer Weckruf, ein Zischen, gefolgt von einer Art Peitschenknall, worauf sie, ihrerseits »Verdammt« zischend, davonstürmte und er sich zum Sofa begab. Er war kein feuriger junger Mann mehr. Er hatte Geduld, er konnte warten.
    Als sie fünf Minuten später zurückkam und ihm seinen Whisky mit Soda brachte, lag er auf dem Sofa und korrigierte einen Text, den sein Team vom Imperial College in Nature veröffentlichen wollte. Das übliche Durcheinander aus Schuhen, Mantel, Jackett, Krawatte, offener Aktentasche, Papieren und offenem Koffer, aus dem Kleidungsstücke und eine Plastiktüte quollen, bedeckte den Fußboden. So unvermittelt aus ihrem stürmischen Wiedersehen in die komplexe molekulare Pflanzenbiologie versetzt und in dem Bewusstsein, dass er und Melissa, komme, was da wolle, binnen einer Stunde miteinander schlafen würden und schließlich auch noch mit einer Mahlzeit in Aussicht, war ihm außerordentlich wohl zumute.
    Sie beugte sich über ihn, die freie Hand in die Hüfte gestemmt. »Mach Platz, Professor.«
    Er mochte ihr cooles, wissendes, schiefes Grinsen. Grunzend rappelte er sich hoch, klopfte auf das Polster neben sich und nahm ihr das Glas ab. Als sie sich an ihn schmiegte, legte er den Aufsatz beiseite und sagte: »Denk dir nur, auch das mickrigste Unkraut in einer Bürgersteigritze hat ein Geheimnis, dem die besten Forschungsinstitute der Welt gerade erst auf die Spur zu kommen beginnen.«
    Er nippte an seinem Whisky, während ihre Hand zwischen seinen Beinen ruhte. Gedankenverloren streichelte sie ihn.
    »Du hast mir gefehlt, Michael. Wieso Unkraut?«
    »Habe ich dir das nicht

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