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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Eingang teilten, an der unhygienischen Nachbarschaft von Geschlechts- und Ausscheidungsorganen, den Qualen bei der Geburt, den misslich platzierten und leicht verletzlichen Hoden, dem so häufig getrübten Sehvermögen, den Autoimmunkrankheiten, die zur Selbstzerstörung führten. Und das waren nur die körperlichen Gebrechen. Der Homo sapiens war der beste Beweis gegen die Existenz Gottes. Kein Gott, der etwas taugte, konnte an der Werkbank so nachlässig gewesen sein. Beard teilte genüsslich alle Makel mit dem Rest der Menschheit: Was war er doch für ein Ungeheuer an Unaufrichtigkeit, wenn er wie jetzt eine Frau in seinen Armen wiegte, die er womöglich schon bald zu verlassen gedachte, während er, um nur ja möglichst wenig selbst sagen zu müssen, den einfühlsamen Zuhörer mimte, wo er doch nur ohne jedes Vorgeplänkel mit ihr ins Bett wollte, die von ihr bereiteten Speisen verzehren wollte, eine Flasche Wein trinken und dann schlafen - ohne Vorwürfe, ohne Schuldgefühle.
    Sie nahm sein leeres Glas und stand auf.
    »Ich schau mal nach dem Essen«, sagte sie. »Und hol dir noch ein Glas.«
    Aber sie konnte sich nicht losreißen, nicht, bevor sie sich noch einmal zu ihm heruntergebeugt und ihm einen Kuss gegeben hatte. Ein ausgiebiger Zungenkuss, nach dem sie ihn umklammert hielt; während Beard, noch immer sitzend, aufs Höchste erregt - das Gesicht über dem duftenden Dunkel ihrer aufgeknöpften Bluse, sein ganzes Blickfeld ausgefüllt von dem Spalt zwischen ihren schwellenden Brüsten -, Zeit hatte, sich zu fragen, warum es ihn mehr bedrückte als sonst, all das Reden, Zuhören, Kochen, bevor irgendetwas wirklich Lohnendes stattfinden konnte. Vielleicht hatte er die Geduld mit dem Kleingedruckten in den zwischenmenschlichen Beziehungen verloren, weil er so viel Zeit an lauten öffentlichen Orten verbrachte und dauernd mit weltläufigen Professoren, wie er selbst einer war, verkehrte, denen ihre akademische Würde aus allen Poren quoll. Endlich allein, befand er sich meist in der nahezu abstrakten Gesellschaft von Kobalt-Ionen, Protonen und Katalysatoren. Und wenn er nicht allein war, gab er sich hirnlosen Tändeleien hin, über die er jetzt lieber nicht nachdenken wollte.
    Sie löste ihre Umarmung und sagte, während sie sich aufrichtete, einen einzigen Satz, den er nicht mitbekam, weil ihre Arme in diesem Moment seine Ohren streiften. Als ihre Hände auf seinen Schultern zu ruhen kamen, sah er zu ihr hoch in der Annahme, sie würden ein beruhigendes Lächeln austauschen, um dieses körperliche Kapitel abzuschließen und Melissa in die Küche zu entlassen, doch zu seiner Verwunderung sammelten sich Tränen in ihren Augen, die jeden Moment überzufließen drohten. Seltsamerweise lächelte sie dabei ganz gefasst, als mache sie sich über ihre eigenen Gefühle lustig oder tue sie als nichtig ab. Einen abergläubischen Augenblick lang bildete er sich ein, er habe sie mit seinen Gedanken aus der Fassung gebracht, diese womöglich laut vor sich hin gemurmelt, oder sie stünden ihm im Gesicht geschrieben. Aber jeder Mensch ist eine Insel, seine Gedanken waren sicher verwahrt. Es musste etwas Ernstes sein, das nichts mit ihm zu tun hatte. Er stand auf und nahm ihre Hände; sie waren feucht, nicht nur an den Handflächen, sondern auch zwischen den Fingern, klebrig und heiß, was auf eine starke Gemütsbewegung schließen ließ, die zu ergründen und zu begreifen nun seine Pflicht war - das ersehnte Vergnügen konnte er fürs Erste vergessen.
    »Melissa«, sagte er. »Was ist mit dir, was hast du eben gesagt?«
    Sie küssten sich wieder, so zärtlich wie zuvor. Vielleicht würde es doch nicht so schwer sein, den Abend wie geplant fortzusetzen.
    Dann sah sie ihn mit großen Augen an und lachte. »Dummchen. Ich liebe dich. Ich habe gesagt, dass ich schwanger bin.«
    »Ah...«
    Ihm wurde schwarz vor Augen, als Frau wäre er ohnmächtig aufs Sofa zurückgesunken. Schwanger. Er rang mit diesem mächtig schwellenden Wort - durchaus vertraut, im Augenblick jedoch aus dem Zusammenhang gerissen wie das Gesicht des Manns vom Zeitungskiosk an einem völlig anderen Ort. Dann aber fügten sich Wort, Bedeutung und Konsequenzen, Biologie und Schicksal zusammen und rasteten ein wie ein Stahlschloss. Die Tür seiner Zelle hatte monatelang offen gestanden, jahrelang, er hätte jederzeit gehen können. Zu spät. Hinter seinem Rücken hatte eines seiner Spermien, tapfer und verschlagen wie Odysseus, die lange Reise angetreten, die

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