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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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schon erzählt? Ein Pflanzenblatt ist eine Art Sonnenkollektor, spaltet Wassermoleküle auf und bindet Kohlendioxid. Wir könnten das nachahmen und Wasserstoff gewinnen. Du mir auch.«
    Stimmte das? Während er sie küsste, erkannte er, eigentlich hätte sie ihm gefehlt haben müssen, so erregt und glücklich, wie er jetzt war. Aber ihm hatte niemand gefehlt, niemand mehr seit jenem verhängnisvollen Sommer 2000, als er wie ein Hund nach seiner für immer letzten Angetrauten gelechzt hatte. Es gab Menschen, auf die er sich irgendwie freuen konnte, aber nicht ein einziges Mal seit jener Zeit hatte ihm die Abwesenheit eines anderen zu schaffen gemacht. Wenn er dieser Tage allein war, las er, trank er, aß er, saß am Telefon, vor dem Internet oder vorm Fernseher, reiste zu Tagungen - oder er schlief. Er war auf niemand angewiesen, war sich selbst genug, sein Kopf ein Tummelplatz für Gelüste und Träumereien. Wie viele kluge Männer, denen Objektivität über alles geht, war er im Grunde seines Herzens Solipsist, und tief in diesem Herzen saß ein Klümpchen Eis, das Melissa zu schmelzen gedachte.
    Natürlich mussten sie sich, bevor sie miteinander schliefen, erst einmal über die vergangenen Wochen austauschen, über ihre Erlebnisse, ihre Empfindungen. Seine Schuld, dass er sich nie bei ihr meldete, ihre, dass sie keine Abhilfe schaffte. Also bekam er die Neuigkeiten jetzt zu hören. Ein Musical über einen Jungen aus der Arbeiterklasse, der unbedingt Balletttänzer werden will, sorgte für überdurchschnittliche Umsätze. Aber nicht etwa bei Jungen. Sondern bei den Mädchen, die von einem solchen Jungen träumten. Ein bekannter Choreograph war gestorben, der zeitlebens geglaubt hatte, nicht berühmt genug zu sein. Beim Gedenkgottesdienst waren im schmalen Mittelgang einer Kirche in Soho fünf Tänzer aufgetreten, und selbst die Feinde des alten Mannes hatten geweint.
    Michael hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt, sie schmiegte sich an seine Brust, während sie sprach. Sie sorgte für ihre Läden, ihre Kunden, ihre Angestellten, ihren Geliebten, nun sollte er sie umsorgen. Während er zuhörte, sah er sich um - die braune Chaiselongue an der Wand, die Moore-Figur, die Kaltnadelradierung aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Tänzer auf einer Straße in Utrecht zeigte, eine Schale mit ebenmäßigen Steinen auf einem Kupferteller - und hoffte herauszufinden, welch subtile Veränderung seinem unachtsamen Blick entgangen sein mochte. Irgendetwas stimmte nicht. Mit seinen verstreuten Habseligkeiten hatte es nichts zu tun. Eher schien die Luft selbst in Unordnung zu sein, wie wenn ein Raucher gegangen ist und sein Qualm sich verzieht.
    »Ich liebe dich«, unterbrach sie ihren Bericht von der Beerdigung und knabberte verspielt an seinem Arm.
    Er war ihr zugetan, vielleicht mehr als je zuvor, aber falls er sich eines Tages doch von ihr lösen musste, wäre das für sie beide nur noch schwieriger, wenn er einmal gesagt hätte, dass er sie liebe. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, wie und wann er jemals von ihr lassen sollte, und so zog er sie jetzt noch näher an sich heran. Was er ihr zuflüsterte, war ziemlich dürftig, würde aber reichen.
    »Du bist schön, Melissa.«
    Sie erzählte weiter, und er streichelte ihren Kopf; zum ersten Mal, seit er sich hinter dem Samtvorhang übergeben hatte, konnte er sich vorstellen, wieder Hunger zu haben, vielleicht bereits in der nächsten halben Stunde. Schon fragte er sich, was da für Düfte in der Luft hingen. Witterte er Tamarinde und Knoblauch, Limone, Ingwer und Huhn? Wie melodisch weich ihre Stimme war, und auch ein wenig traurig, dachte er. Ab und zu zog sie seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Sie schweifte ab und kam wieder auf einen ihrer Läden zu sprechen, es ging um ein Loch in der Decke oder im Fußboden, durch das etwas gefallen war, dann irgendwas mit einem launischen Dackel, den eine alte Primadonna, die an Alzheimer litt, im Laden vergessen hatte. Jetzt schweiften auch seine Gedanken ab. Er fand, er sei ein Durchschnittstyp, nicht grausamer, nicht besser oder schlechter als die meisten. Gewiss war er manchmal, wenn er sich anders nicht zu helfen wusste, gierig, egoistisch, berechnend und verlogen, aber das waren alle anderen auch. Die Unvollkommenheit des Menschen ließ sich allenthalben beobachten: am menschlichen Rückgrat, das mit seiner S-Krümmung nicht viel aushielt, daran, dass sich Atmung und Nahrung umstandslos ein und denselben

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