Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
zum Tod Claudettes geführt hatte?“
Adrian krallte die Finger seiner linken Hand um die Armlehne seines Rollstuhls. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er Sequana anspringen. Oder schwach werden und mit ihr offen reden. Doch dann fing er sich wieder.
„Ich würde Sie bitten jetzt zu gehen“, sagte er. „Ich habe noch Termine.“
Sequana presste die Lippen zusammen, dann entspannte sie sich und nickte.
„Bleiben Sie sitzen, ich finde den Weg alleine durch den Garten. Aber wenn Ihnen noch etwas einfällt, ich lasse Ihnen meinen Kontakt hier.“ Sie stand auf und holte eine kleine Blankochipkarte aus ihrer Tasche, zog sie über den Scanner ihres Comdevices und legte sie vor Adrian auf den Tisch. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort.
49 | VERLANGEN
Die Luft war wie elektrisch geladen. Eva war gefangen in einem Strudel aus pulsierendem Licht, stampfenden Bässen und flackernden Höhen. Ein Meer aus schwitzenden Körpern umgab sie, die sich mit ihr durch diesen Strudel bewegten. Die Luft war ein Meer aus Alkohol und Hitze. Eine Welle durchlief die Menge und sie spürte die Muskelbewegung eines fremden Körpers an ihrer Seite. Einer der beiden Drinks, die sie durch die Menge balancierte schwappte über und sie spürte eisgekühlte Tropfen über ihre Finger laufen.
Ein Stück von der Bar entfernt hatte sie wieder Platz zum Atmen. Sie hob vorsichtig die linke Hand und versuchte sich umständlich den kalten Wodka vom Handrücken zu lecken, während sie am gefährlich schief gehaltenen Longdrink-Glas vorbei in Solvejgs Richtung spähte. Diese hatte sich das Tanzen schnell zu eigen gemacht. Auf eine wilde und gleichzeitig elegante Art und Weise bewegte sie sich durch die Menge, verschwand hinter einigen Menschen und tauchte kurz darauf wieder auf. Eva ließ ihre Hand wieder sinken und merkte kaum, dass ihr erneut der Inhalt des Glases über die Finger schwappte.
Die Musik wurde ruhiger und einige Tanzende zog es in Richtung Bar um etwas gegen die verlorene Flüssigkeit zu tun. Solvejg ging im leichten Slalom durch sie hindurch auf Eva zu. Ihre kurzen, schwarzen Haare waren feucht und hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Das anthrazitfarbene Kleid, das Eva ihr geliehen hatte, und das bei ihr so Figur betonend saß, dass sie es praktisch nie außerhalb ihrer eigenen Wohnung getragen hatte, umspielte Solvejgs schmalen Körper wie ein Nachthemd. Sie hatte die Schuhe an der Garderobe abgegeben und lief barfuß. Sie wirkte in diesem Moment noch jungenhafter als sonst.
Eva hatte nie darüber nachgedacht, ob es sie mehr zu Frauen oder Männern hinzog. Die meiste Zeit über beschäftigte sie vielmehr der Gedanke, ob sie sich überhaupt körperliche Nähe zu einer anderen Person vorstellen konnte. Das Geschlecht war dabei völlig nachrangig. Erst in diesem Moment begannen ihre alkoholverhangenen Gedanken weitere Kreise zu ziehen. Sie sah an sich hinab, auf ihr eigenes schwarzes Kleid. Sie war es nicht gewohnt Kleider zu tragen, doch Solvejg zuliebe hatte sie auf die bequeme Jeans und das T-Shirt verzichtet und sich stattdessen für ein knielanges Kleid entschieden. Der Ausschnitt kam ihr in diesem Moment weiter vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Oder lag das nur am Blickwinkel? Wie mochte sie wohl neben Solvejg aussehen? Die Vorstellung erregte sie.
„Ist das kalt?“ Solvejg deutet auf den Wodka. Eva gab ihr eines der Gläser und nahm selbst einen großen Schluck. Ihr war heiß und sie sehnte sich nach einer Abkühlung, doch der Alkohol brannte mit jedem Schluck nur noch stärker in ihrem Innern. Sie sah zu Solvejg, der es offensichtlich ähnlich ging.
„Frische Luft?“, fragte Eva und hob die Stimme, um gegen die erneut aufflammende Musik anzukommen. Solvejg nickte, nahm noch einen Schluck und stellte ihr Glas dann auf einem nahen Tisch ab.
Draußen umfing sie die kalte Nachtluft. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und vor allem hier am westlichen Rand der Stadt blies er mittlerweile beängstigend stark. Die anfängliche Euphorie, die die frische Luft und der kühle Windzug auf ihrer Haut ausgelöst hatte, war verflogen. Eva schlüpfte hastig in ihren Mantel. Ihre Finger fühlten sich taub an, ob durch die Kälte oder den Alkohol konnte sie nicht sagen. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich gar nicht so betrunken fühlte, wie sie im Innern des Clubs noch gedacht hatte. Solvejg hingegen war im Wind herumgesprungen, als wolle sie ihren Tanz hier draußen fortführen. Erst einige Minuten später
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