Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
ihre Stärke gewesen. Immerhin standen sie jetzt hier, im hintersten Winkel Europas, auf der Schwelle zur Welt der Children of Chou. Und sie wussten gar nichts. Weder was sie erwarten würde, noch was sie verlieren würden.
„Ilyena, du bist die einzige hier, die das Sangre in sich trägt. Ich werde als erstes gehen, du folgst hinter mir. Und falls etwas geschieht mit diesem ... Ding“, Lilian machte eine hilflose Geste in Richtung des Lichts, „dann nutzt du deine Kräfte um die anderen hier raus zu bringen. Nehmt euch ein Schiff und fliegt zurück nach Hamburg. Sucht Isaak, und ...“, sie stockte, als Ilyena hinter sie trat, den Kopf leicht neigte und die Stirn gegen ihren Nacken legte. Lilian spürte ein Kribbeln, als würde Elektrizität durch ihre Wirbelsäule fahren.
„Wie sollen wir denn von hier weg kommen ohne Pilotin?“, flüsterte sie ihr ins Ohr. „Geh jetzt, wir folgen dir, egal was passiert.“
Lilian wollte etwas erwidern, doch sie schaffte es nicht mehr, den Kopf zu drehen. Das Kribbeln war durch ihren Körper gedrungen und hatte ihre Augen erreicht, die sie nun nicht mehr von dem Licht lösen konnte, das langsam Konturen annahm. Lilian trat einen Schritt vor und sah die Umrisse einer Stadt. Eine Skyline. Hinter dem Licht lag ein Ort, der ihr vertraut vorkam. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber das spielte auch keine Rolle mehr. Ihr war klar, dass sie keinen Schritt mehr zurück machen wollte.
Einer nach dem anderen verschwanden sie hinter Lilian im Licht. Das Licht flackert sekundenlang, bevor es sich wieder stabilisierte. Der Goðafoss rauschte am anderen Ende der Höhle, die schon bald darauf nicht mehr existierte.
70 | KIMBRICA
Die Nacht war nicht so schwarz, wie Ninive erwartet hatte. Sie dachte an die Fahrt im Zug nach Camaret zurück. Das Land außerhalb des Waggons war ihr tiefschwarz vorgekommen, mit nur wenigen Abstufungen der Dunkelheit. Der klare Nachthimmel war durchzogen gewesen von Sternen, deren Licht jedoch gerade als Nachweis ihrer Existenz reichte. Hier über Jütland waren keine Sterne zu sehen, doch es war, als reflektiere die Decke aus Sturmwolken das von der Erde zurückgeworfene Licht und konserviere das Spiel aus Licht und Schatten der Dämmerung bis tief in die Nacht hinein.
Der Wind schnitt eisig landeinwärts, als sie die Flanke am Nordende des großen Walls umrundeten und linker Hand die offene Nordsee sahen. Ein gutes Stück über ihnen hatten sie den Schienentruck zurückgelassen. Am Ende des Walls war ein breites Plateau, auf dem die Gleise in einer engen Schlaufe verliefen und ankommenden Schienenfahrzeugen so eine Wendemöglichkeit gaben. Von dort aus hatte sie ein schmaler Pfad hinab in die Senke geführt, die sie nun durchquerten. Der aufziehende Sturm hatte die See schon weit über den Stand und den niedrigen Dünenkamm gedrückt, und immer wieder rollten hohe Wellen landeinwärts und reichten ihnen bis zur Hüfte.
„Bleibt dich zusammen“, rief Isaak, der die Gruppe anführte, durch den Wind nach hinten. „Wenn euch die Füße vom Sog der Wellen weggerissen werden, müsst ihr in der Reichweite eines Begleiters sein, um nicht davongespült zu werden.“
Ninive sah unwillkürlich nach hinten. Solvejg folgte direkt hinter ihr, konzentriert darauf, nicht aus der Reihe zu tanzen. Ninive erkannte die Sehnsucht in den Augen des Klons. Solvejg wollte im Wind baden, die Wellen umarmen und sich von den Fluten treiben lassen. Sie kannte diese Gefühle, auch wenn bei ihr nie die Gefahr bestanden hatte, dass sie sich diesen hingab. Ninive hatte immer sehr viel Wert auf Rationalität und Selbstbeherrschung gelegt. Einen großen Teil ihres Lebens hatte sie sogar geglaubt, dass die unterdrückte Lust des Kontrollverlusts eine Abnormität war, die sie als Klon disqualifizierte. Erst als sie durch Isaak erfahren hatte, dass sie nie Neurohemmer bekommen hatte, änderte sie langsam diese Meinung. Und dennoch kam ihr dieser innere Drang sich dem Rausch der Natur hinzugeben so unangemessen vor, wie Sex in der Öffentlichkeit. Sie musste an Solvejg und Eva denken, als sie und Isaak die beiden in dem dunklen Container gefunden hatten. Solvejg hatte diese Zwänge und Grenzen nicht. Ninive beneidete sie darum.
Eva folgte auf Solvejg und im Gegensatz zu ihrer Freundin waren ihre Nerven offenbar zum Zerreißen gespannt. Ninive konnte nicht sagen, ob der Umstand, dass sie immer wieder hüfthoch in den Fluten stand, schlimmer war oder die Tatsache, dass sie sich
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