Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
mehr das reißende, tosende Ungeheuer der letzten Tage. Dennoch musste Ninive auf die Unterströmung aufpassen, als sie durch die tiefe Rinne watete, an der sich die Wellen brachen. Ein Stück weiter stand sie tiefer im Wasser. Die höchsten Wellen reichten ihr bis zu den Schultern, doch das Wellental lieferte ihren Oberkörper dem kalten Seewind aus.
Sie fröstelte leicht, doch die kalte Luft betäubte das Brennen des Salzwassers in den feinen Wunden, die sie aus dem Kampf mit den Visaren davongetragen hatte. Ninive holte tief Luft und tauchte unter. Das kalte Wasser schlug über ihr zusammen. Mit den gefühllosen Fingern fuhr sie sich einige Male durch die blonden Haare, bevor sie wieder auftauchte. Das Blut der Visaren, der Staub des Schienentrucks, der Sand, der sich hier an der Küste praktisch in jeden Winkel der Kleidung verirrte, die Anstrengungen des Kampfes und die Überhitzung ihrer Muskeln – all das ließ sie vom Wasser fortspülen. Es war ein schmerzhaftes und gleichzeitig befreiendes Gefühl.
Doch lange hielt sie trotzdem nicht im Wasser aus. Sie drehte sich um und blickte über die Wasserfläche hinaus zum Horizont, den die untergehende Sonne schon fast berührte. Eine weitere Welle rollte an und prallte gegen sie. Die Gischt des brechenden Wassers flog an ihr vorbei. Ninive beobachtete eine Möwe, die von weit draußen auf dem Meer zurückkam und nur wenige Armlängen über ihr hinweg in Richtung Strand glitt.
Ninive drehte sich um, um dem Vogel zu folgen. Ihre Füße spürten den Meeresgrund kaum noch, nur die spitzen Muschelsplitter und kleinen Kiesel, die sich in der Brandungsrinne gesammelt hatten, drangen zu ihr durch. Ninive ging durch den weichen Sand den Strand hinauf bis zum Rand der Dünen, wo ein Bündel aus Tüchern und Kleidung lag. Sie zog eines der Tücher hervor, trocknete sich Haare und Gesicht grob ab, dann wickelte sie sich in das Tuch und legte ihre vom Kampf dreckige Kleidung zusammen und klemmte sich diese unter den Arm.
Noch immer mit bloßen Füßen, Beinen und Schultern ging sie einen schmalen Pfad zwischen den trockenen, langen Dünengräsern entlang und umrundete eine große Düne. Einige hundert Meter den Strand hinunter sah sie zwei große Feuer am Strand. Etwa auf halber Strecke dorthin tauchte eine weitere Person aus den Wellen auf und machte sich langsam auf den Weg zurück ans Land. Ninive ließ ihre Füße beim Gehen durch den Sand gleiten. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit war der Boden noch immer von der Sonne gewärmt.
Sie hatten einen Ort erreicht, der für Ninive nahe der Perfektion war. Ihr war das gar nicht aufgefallen, während sie die unzähligen Kilometer mit dem Schienentruck nordwärts gefahren waren. Auch in Camaret war das Gefühl, als sie mit Lilian in der Bucht badete, nicht dasselbe gewesen. Die Weite, Wildheit und Freiheit am jütländischen Strand ließ sie völlig vergessen, dass sie keine vierundzwanzig Stunden zuvor nur knapp dem Tod entronnen waren. Mehrfach.
Nachdem Sasha mit aller Macht das Energieschild auf die Visaren gefeuert hatte, und fast zeitgleich das Portal zu den Korridoren zusammenbrach, war es noch immer ein Stück Arbeit für sie und Isaak gewesen, die letzten überlebenden Visaren zu besiegen. Doch schließlich hatte Isaak die bewusstlose Sasha über seine Schulter geworfen, und sie waren zu Sequana in den Kontrollraum gelaufen. Es war nur der Tatsache zu verdanken, dass Sequana den größten Teil ihrer Ausrüstung schon vorher losgeworden war, dass Ninive sie überhaupt aus der Station tragen konnte.
Mit dem Schienentruck waren sie ein Stück zurück nach Süden gefahren, bis sie schließlich eine verlassene Kolonie in den Dünen unterhalb des Walls gefunden hatten. Dort bezogen sie eines der besser erhaltenen kleinen Häuser. Solvejg und Eva machten sich daran, die Verletzten zu verarzten, dabei zeigte sich, dass Solvejg in ihrer Zeit in der Klinik alleine durch Beobachten erstaunliche medizinische Fähigkeiten entwickelt hatte.
Gegen späten Nachmittag hatten sie den Proviant aus dem Schienentruck geholt und Sasha und Sequana waren wieder bei Bewusstsein. Und erst dann ließ die Anspannung bei Ninive nach. Sie hatte sich zwei große Tücher gegriffen, die sie in den Schränken der Behausung gefunden hatten, und war alleine durch die Dünen entlang der Küste gegangen. Der Wind hatte die Tränen der Erschöpfung, die sich Bahn brachen, nachdem sie endlich alleine war, getrocknet, und das Rauschen des Meeres die
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