Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
entschlüsseln kann. Und das nagt an mir. Ich weiß, dass sie die vermeintlichen Neurohemmer abgesetzt hat, und sie zeigt prinzipiell dieselben Instabilitäten wie die anderen ihrer Art – allerdings nur auf dem Papier. Die Ergebnisse des EEGs, die unterbewussten Reaktionstests ... alles zeigt die gestörten Auffälligkeiten eines künstlich geschaffenen Somatonikers. Doch wenn man dann vor ihr steht, könnte man denken, sie wäre ein Mensch. Ein ganz normaler Mensch, meine ich. Und genau das ist es, was mich ins Grübeln brachte. Und die Auswahl, die auf sie fiel. Ich hatte mich umgehört, dachte, warum das Risiko eingehen, einen Klon mit auf eine Mission zu nehmen, der zur nicht steuerbaren Kategorie gehört? Dass sie nicht auf Neurohemmern ist, müssen die doch auch in ihrem Eignungscheck gemerkt haben. Ich konnte mir das nicht erklären.“
Er nahm einen großen Schluck vom Rotwein und stellte das Glas zurück auf die Konsole, um sich wieder der Pariser Nacht zuzuwenden.
„Ich traue unserem System nicht mehr. Schön, so richtig viel Vertrauen hatte ich noch nie, aber mein Ehrgeiz hat die Zweifel immer vertrieben. Du hast es Opportunismus genannt, wenn wir uns darüber gestritten haben. Heute denke ich, dass du Recht hattest. Ich gebe mich dem Opportunismus aber noch immer hin, und dennoch glaube ich, dass ich am Ende mehr Gutes als Schlechtes damit bewirkt haben werde. Nehmen wir Sequana und Rasmus. Sie ist eine skrupellose Kämpferin, die ich auf diesen unerträglichen Grübler losgelassen habe. Würden alle Menschen denken wie dieser Rasmus, die Welt wäre vielleicht ein besserer Ort ... in der Theorie! Doch wären alle Menschen wie Sequana, wir würden unseren Trieben folgen und handeln. Dabei ist sie ein Bausatz ... ich ... ich kann dir nicht erklären, wie ich das meine, aber ...“
Der Professor brach ab und rieb sich die Stirn, dieser Eintrag entwickelt sich nicht in die richtige Richtung. „Ich habe gesagt, ich erzähle dir vom Warum, Yanis, von meinem Antrieb, meiner Motivation. Um ehrlich zu sein, es ist wohl zu allererst mein Ego. Ich werde nicht gerne hintergangen. Doch genau das ist mit Ninive passiert. Mich interessieren diese ganzen Gestalten nicht, weder Sequana noch Ninive oder ihr nervtötender Freund. Ich will diejenigen finden, die mich hintergehen. Und ihnen zeigen, wozu ein Wissenschaftler fähig sein kann.“
Der Comscreen blinkte plötzlich auf. Professor Doignac hielt inne und runzelte die Stirn. Es war reichlich spät für einen Anruf, und die Signatur der Verbindung verwies auf keine autorisierte Quelle. Mit einer knappen Geste schloss er das Journal und codierte den Dateizugang, bevor er den letzten Rest des Rotweins hinunterstürzte und den Anruf entgegennahm.
„Hören Sie!“ Die Stimme war frequenzverzerrt, doch Professor Doignac erkannte sie dennoch.
„Agent Síde, Sie nutzen nicht die sichere Leitung, die...“
„Diese Leitung ist sicher“, entgegnete Sequana ohne sich darüber zu wundern, dass er sie trotz Verzerrer erkannt hatte. „Sie hören mir jetzt zu. Ich weiß nicht, wer Sie sind oder warum Sie mich auf Rasmus Riga angesetzt haben, aber ich bin nicht blöd, ich habe mir die Informationen zusammenreimen können. Ich weiß jetzt von der Mission.“
„Bravo, Agent Síde, Sie haben für mich zumindest die Informationen in Erfahrung bringen können, die ich bereits kannte, ich gratuliere.“
„Klappe halten!“, entgegnete Sequana knapp. Doignacs Mundwinkel zuckte. Sie war ein Klon, keine Frage, aber sie hatte ihren Stolz, in diesem Punkt war sie ihm sympathisch. „Ich habe das Ziel erfahren und werde mich dort jetzt selbst umsehen.“
Professor Doignac stockte der Atem und sein Lächeln verschwand. Er selbst wusste, dass der Missionstrupp mit Ninive Solheim nach Camaret aufgebrochen war, doch das eigentliche Ziel der Mission kannte er nicht. War es möglich, dass Sequana etwas herausgefunden hatte, das ihm von Nutzen sein konnte? Doch noch etwas anderes beschäftigte ihn, verursachte sogar eine große Unruhe in seinem Inneren.
„Wo sind Sie, Agent Síde?“, fragte er mit einem kaum unterdrückten Beben in der Stimme. „Sie fahren doch nicht alleine raus nach Camaret?“
„Ich werde Ih...“, Sequana stockte. „Machen Sie sich etwa Sorgen um mich?“
Der Professor schwieg und versuchte Zeit zu gewinnen, während seine Gedanken wilde Kreise zogen. Einerseits musste er wissen, welche Informationen Sequana womöglich gesammelt hatte. Andererseits
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