Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
sie durften nicht nachlässig werden. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel in der Hütte gewöhnt hatten. Sie hörte ein scharfes Einatmen von Ninive, die ganz offensichtlich diese Zeit nicht brauchte. Lilian wusste um die besonderen Fähigkeiten der Somatoniker, und Ninive war spezialisiert auf die Nutzung ihrer Sinne. Sie fragte sich, zu was sie noch imstande war.
Der scharfe Geruch, der in der Luft lag, bereitete Lilian schon auf das vor, was sie kurz darauf auch sah. In der kleinen Hütte befanden sich sechs Leichen. Lilian erkannte sie sofort an der Kleidung als Mitglieder der Expedition. Jemand hatte sie an Händen und Füßen gefesselt und dann die Kehlen durchgeschnitten. Zwei der durch den Tod verzerrten Gesichter erkannte sie wieder. Es waren zwei der Soldaten, die im Zug von Paris nach Camaret ein Abteil in ihrem Wagen hatten. Lilian warf einen Blick zur Seite, offenbar hatte auch Ninive die beiden wiedererkannt.
„Was ist hier passiert?“, fragte sie erschrocken. Lilian wusste darauf keine zufriedenstellende Antwort.
„Die Children of Chou sabotieren die Expedition, so wie es aussieht“, sprang Seamus ein, der aus den Waffenholstern der Toten Pistolen zog und ihre Taschen nach Munition untersuchte. „Wir hatten vermutet, sie würden subtiler vorgehen.“
„Isa... Ich bin davon ausgegangen, sie würden die Expedition unterwandern, Spione in das Team einschleusen, aber das hier ... vielleicht ist ihnen jemand auf die Schliche gekommen, und sie mussten schnell handeln.“ Lilian beugte sich runter zu einer der Leichen und durchsuchte deren Kampfanzug nach brauchbarem Inventar. „Oder aber die Ossfhang haben ihre Pläne durchkreuzt.“
Ein dumpfes Klopfen von der Tür war zu hören. Lilian stand auf und sah Seamus an, der sich hastig einige Ersatzmagazine Pistolenmunition in die Taschen seiner Weste steckte.
„Martin?“, zischte Lilian und ging einen Schritt in Richtung Tür, legte dabei eine Hand an den Griff ihrer Shotgun, die in einem Ledergurt an ihrer Hüfte befestigt war.
„Alles im grünen Bereich“, Martin steckte seinen Kopf durch die Tür ins Innere der Hütte, „aber ein wichtig aussehender Typ in Militäruniform ist da vorne in einem der Bürogebäude verschwunden. Vielleicht finden wir dort Antworten...“
„Gut“, Lilian entspannte sich etwas, „Ninive, du kommst mit mir. Gib ihr eine Knarre Seamus. Martin, du bleibst auf deinem Posten bis Seamus hier drinnen alles brauchbare gesichert hat.“
Sie schlüpfte an Martin, der mit einem Grinsen salutierte, vorbei ins Freie und ließ sich von ihm das Gebäude zeigen, in dem der Mann verschwunden war. Sie warf einen Blick zurück und wartete, bis Ninive ihr folgte. Die Art wie die blonde Frau die Waffe hielt, die ihr Seamus in die Hand gedrückt hatte, ließ Lilian schmunzeln. Ninive war sicher eine der besten Schützinnen gewesen, daran hatte sie keine Zweifel, jemand der auf das Schärfen seiner Sinne spezialisiert war, der von Geburt an mit Neurohemmern ausgestattet war, die in der Lage waren, jede Form von Emotionsregung und Skrupel zu unterdrücken, der war unbestreitbar ein idealer Kandidat für den Schusswaffengebrauch. Doch Ninive sah in der Handhabung aus wie aus dem Lehrbuch. In Sachen Coolness musste sie noch lernen.
Sie hatten sich dem Gebäude in einem kleinen Bogen genähert und lehnten nun direkt an der Rückwand unterhalb eines kleinen Fensters. Lilian hatte gehofft, die alten klapprigen Gebäude würden weniger schallisoliert sein, doch offenbar war der Lärmschutz der Bauten am Flugfeld ernst genommen worden. Sie seufzte und deutete an, zur Vorderseite des Gebäudes zu gehen, doch Ninive griff nach ihrem Handgelenk und legte einen Finger an die Lippen.
„Ich höre alles ... sie scheinen sich zu streiten“, flüsterte Ninive, „es ist nicht sonderlich aufschlussreich.“
„Wer streitet sich?“, hakte Lilian nach.
„Ein Colonel Belnoir ... das ist doch der Leiter unserer Mission! Er war mit im Zug!“ Ninive stellte sich auf die Zehenspitzen um in das Fenster zu spähen.
„Dann hatte Isaak Recht, sie haben die Expedition infiltriert, und zwar an höchster Stelle“, murmelte Lilian mehr zu sich selbst und beobachtete Ninive, die ihr auf Zehenspitzen stehend noch größer vorkam als sonst.
„Den anderen Mann sehe ich nicht, aber der Colonel nennt ihn General ... und er hat offenbar Angst vor ihm.“
„Der Colonel vor dem General?“, vergewisserte sich
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