Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
schließlich verlöschende Display ihres Comdevices. Sie war zu persönlich geworden und hatte Schwäche gezeigt. Einen solchen Fehler machte sie sonst niemals. Nicht einmal mehr bei den seltenen Treffen mit ihrer Mutter. Distanziert bleiben und sich auf die eigenen Probleme konzentrieren, nur so bekam man sein Leben in den Griff. Sie warf einen Blick auf den nicht mehr ganz sauberen Mantel und die dreckigen Hosenbeine und spürte, wie der Schmerz in ihrer Schulter wieder nach Aufmerksamkeit verlangte.
Doch vielleicht, dachte sie bei sich, während das Boot endlich stark schwankend längsseits des Anlegers ging, vielleicht hilft mir diese Einstellung nicht mehr weiter, jetzt wo ich mich nicht mehr nur um mein Leben kümmern muss. Sie dachte an Solvejg, die auf sie warten würde, dort oben am Fenster hoch über dem Park, den sie in wenigen Minuten durchqueren würde. Sie spürte Panik in ihrem Inneren aufsteigen, und gleichzeitig spürte sie, wie die Schwere, die den ganzen Tag auf ihr ruhte, verschwand.
46 | GIN
„Zieh deine Bluse aus, ich komme gleich zu dir.“
Eva nippte an ihrem Glas. Der kühle Gin kribbelte angenehm beim Schlucken. Seit einigen Jahren bereits hatte Eva kaum ein Glas Alkohol getrunken, meistens blieb es bei einem Bier nach Feierabend. Vor Jahren hatte sie sich mal an Wein versucht, nachdem die Leitung der Aljoscha Klinik ihr zum Beginn ihrer neuen Stelle eine sündhaft teure Flasche aus Paris eingeführten Rotweins geschenkt hatte. Doch sie selbst konnte sich die seit dem endgültigen Zusammenbruch der regulären Handelswege zwischen den Städten des Kontinents nach der Zerstörung Amsterdams ständig steigenden Preise für importierte Waren nicht leisten. Und der Wein aus den gigantischen Gewächshäusern in den elbaufwärts liegenden Vororten Hamburgs war nicht von vergleichbarer Qualität.
Eva stellte das Glas zur Seite und knöpfte bedächtig ihre Bluse auf. Es war angenehm warm in der Wohnung, vor allem nachdem sie aus dem aufziehenden Sturm in den Schutz ihrer Räume zurückgekehrt war. Sie hatte Solvejg während des kleinen Abendessens von ihrem Tag berichtet und dem Sturz auf dem Fährboot. In der Klinik hatte Solvejg die Dinge fast bis zur Perfektion gelernt, die tagtäglich um sie herum geschehen waren. Dazu gehörte auch die Versorgung von Wunden und die Behandlung von Patienten, die lange bettlägerig waren. Als Eva bereits zum dritten Mal über den Schmerz in ihrer Schulter geklagt hatte, wurde ihre Mitbewohnerin aktiv.
Und so legte Eva schließlich ihre Bluse zur Seite, nahm noch einen großen Schluck und streckte sich dann lang bäuchlings auf dem Sofa aus, den Kopf so zur Seite gedreht, dass sie aus dem Fenster blicken konnte. Sie betrachtete die hell erleuchteten Wohnungen in den gegenüberliegenden Gebäuden und stellte fest, dass sie dies zum ersten Mal wieder bewusst tat seit dem Abend, an dem Solvejg zu ihr gekommen war. Seitdem hatte das Leben innerhalb ihrer Wohnung ihre ganze Aufmerksamkeit. Auch die Fensterscheiben hatte sie nicht mehr abgeblendet, wie sie jetzt zum ersten Mal bewusst feststellte. Es war ihr einfach egal gewesen, wer dort draußen war und vielleicht einen Blick auf ihre Wohnung werfen konnte.
Vermutlich war es dem Gin zu verdanken, dass sie bei diesem Gedanken leise kicherte anstatt rot zu werden. Solvejg kam mit einem kleinen Korb aus dem Badezimmer zurück und kniete sich vor das Sofa. Eva spürte ihre warmen Finger an ihrer Schulter, wie sie vorsichtig den Bereich abtasteten, auf den sie gefallen war.
„Ein großes Hämatom ist das“, verkündete Solvejg schließlich. „Und da ...“, ihre Finger wanderten an Evas Seite hinunter zum Rippenansatz. „Hier ist noch eins. tut das weh?“
Der Druck, den sie ausübte, war nicht stark, aber er kam unvorbereitet. Eva zuckte zusammen und krümmte überrascht den Oberkörper.
„Hmmm ...“, machte Solvejg. „Leg dich ruhig hin, ich nutze die Salbe lieber großflächig.“ Sie drehte eine Tube mit Salbe auf und zögerte eine Sekunde, dann öffnete sie unvermittelt Evas BH und zog ihr den Träger über die Schulter, bevor sie anfing, die Salbe großzügig zu verteilen.
Eva biss sich auf die Unterlippe. Ihr Blick fixierte sich auf ihre Schulter und den Träger ihres BHs, der an ihrer Seite herabhing. Ohne den Gin wäre sie spätestens jetzt so nervös geworden, dass ihr jedes Mittel recht gewesen wäre, die Behandlung durch Solvejg möglichst schnell zu beenden. Doch ob es der Alkohol war
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