Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
oder einfach nur die Tatsache, dass sich nach einem entnervenden Tag eine beruhigende Gleichgültigkeit eingestellt hatte, in diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie aus der Situation herauskam. Vielmehr ertappte sie sich bei dem Gedanken, wohin das noch führen konnte. Was wäre, wenn sie Solvejg sagte, sie hätte sich beim Hinfallen auch die Hüfte verletzt? Für einen Augenblick erschien ihr diese Möglichkeit verlockend. Sie atmete tief ein und aus und blickte wieder aus dem Fenster in die Hamburger Nacht.
„Die Salbe bitte noch einwirken lassen“, zitierte Solvejg eine der Pflegerinnen aus der Klinik. „Möchtest du noch ein Glas Gin?“
„Ja bitte“, entgegnete Eva und warf Solvejg einen Blick zu, als diese ihr leeres Glas genommen hatte und in Richtung Küche verschwand. Sie zögerte eine Sekunde, dann setzte sie sich auf der Sofakante auf, legte ihren BH zur Bluse und stützte die Ellenbogen auf ihren Knien ab. Wie würde ihr nächster Schritt aussehen? Was riskierte sie da eigentlich? Selbst wenn sie alle möglichen Konsequenzen beruflicher Art außer Betracht ließ, wäre Solvejg überhaupt bereit dafür, ihr körperlich näher zu kommen? Dass ihre Patientin Körperkontakt bei ihr nicht scheute, das wusste sie mittlerweile, doch hatte es eher etwas kindlich Naives.
„Bitte“, sagte Solvejg, die fast lautlos wieder aufgetaucht war und ihr ein neues Glas Gin reichte. Eva nahm es entgegen, während Solvejg sich neben sie auf das Sofa setzte und sich zurücklehnte.
„Ich habe heute die Schiffe wieder gesehen. Sie sind jetzt ganz nah.“ Solvejg griff zur Tube mit der Salbe und nahm etwas davon auf die Hand.
„Die Schiffe ... bist du sicher, dass es sie wirklich gibt?“, fragte Eva und spürte Solvejgs Finger an ihrer Seite, als sie Salbe entlang ihres Rippenbogens nach vorne verteilte.
„Warum sollte ich von etwas berichten, das nicht da ist?“, gab Solvejg zurück und fuhr weiter mit der Hand über Evas Rippen.
„Das weiß ich nicht, es ist nur so, dass ich diese Schiffe nicht sehen kann.“
„Und deshalb sollen sie nicht da sein?“, fragte Solvejg interessiert.
„Nein, das will ich damit nicht sagen. Und bitte glaube mir, dass ich nicht an dem zweifele, was du sagst, aber“, Eva holte Luft, „es ist nicht leicht, das für mich zu begreifen. Und für meine Berichte an die Klinik muss ich aber versuchen, es zu begreifen.“
„Ich versuche es das nächste Mal besser zu erklären“, entgegnete Solvejg zurückhalten. Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Finger berührten Eva dabei unbeabsichtigt an der Brust. Ein Kribbeln fuhr durch ihren Oberkörper und sie spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Eva wollte instinktiv nach ihrer Bluse greifen.
„Die Salbe bitte noch einwirken lassen“, bemerkte Solvejg pflichtbewusst. Eva nickte knapp und griff stattdessen nach ihrem Glas Gin.
„Eva?“, begann Solvejg, nachdem sie eine Weile stumm nebeneinander gesessen hatten.
„Hm?“, entgegnete Eva.
„Wir sollten ausgehen.“
„Ausgehen?“, Eva sah Solvejg überrascht an.
„Ja. Tanzen gehen. Ich muss lernen, wie so etwas funktioniert.“
„Ich muss aber morgen ...“, Eva verstummte. Sie musste am nächsten Tag arbeiten, jedoch erst zur Spätschicht. Eine Sekunde lang wollte sie nach einer geeigneten Ausrede suchen, doch dann dachte sie darüber nach, welchen Grund sie hatte nicht mit Solvejg tanzen zu gehen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie noch darauf hoffte, den Moment mit Solvejg noch intimer werden zu lassen, doch der Mut – oder der Leichtsinn – der dafür notwendig war, hatte sie verlassen. Und so erschien es ihr als willkommene Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen. Und sich wieder vollständig anzuziehen.
„Also gut, gehen wir aus! Haben wir etwas Spaß!“, stimmte sie schließlich zu.
„Machen wir uns ausgehbereit?“, fragte Solvejg und ihre Betonung ließ vermuten, dass sie keine Ahnung hatte, was das bedeuten sollte. Dennoch war sie bereits begeistert vom Sofa aufgesprungen.
„Machen wir. Ich helfe dir“, entgegnete Eva und griff nach BH und Bluse, „geh schon mal ins Bad.“
„Okay“, entgegnete Solvejg, dann sah sie Eva an und teilte ihr mit, bevor sie ging: „Du hast sehr schöne Brüste.“
Eva blieb regungslos sitzen, während sie hörte, wie Solvejg im Bad verschwand und die Tür hinter sich schloss. Es war nicht das erste Mal, dass Solvejg sie mit Äußerungen überraschte, die in der Situation unpassend wirkten. Vermutlich
Weitere Kostenlose Bücher