Solo
natürlich
nicht in seiner Kanzlei sein, sondern in dem Privathaus, wo er allein
wohnte, seit seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war. In
einer Seitenstraße der Avenue Victor Hugo. Jarrot fand die
Telefonnummer und wählte hastig.
Kurze Pause, dann sagte eine Stimme: «Hier Deville.»
« Maître ? Ich bin's, Jarrot. Ich muß Sie sprechen.»
«Ah, wieder mal in der Klemme,
Claude?» Deville lachte gutgelaunt. «Gleich morgen
früh in der Kanzlei. Sagen wir, um neun.»
«Die Sache kann nicht warten, maître.»
«Mein Lieber, sie wird warten
müssen. Ich bin zum Dinner eingeladen und sollte um diese Zeit
eigentlich gar nicht mehr zu Hause sein.»
«Maître, haben Sie die Abendnachrichten verfolgt? Wissen Sie, was im Bois de Meudon passiert ist?»
«Die Morde?» Devilles Stimme hatte jetzt einen anderen Klang. «Ja.»
«Wegen dieser Sache muß ich Sie sprechen.»
«Sind Sie jetzt in der Werkstatt?»
«Ja.»
«Dann erwarte ich Sie hier in einer Viertelstunde.»
Jean Paul Deville war
fünfundfünfzig Jahre alt und einer der erfolgreichsten
Verteidiger an der Strafkammer von Paris. Dennoch stand er mit der
Polizei auf gutem Fuß. Obwohl er zum Besten seiner Klienten alle
Tricks und Kniffe spielen ließ, war er fair und gerecht und
peinlich korrekt in seiner Handlungsweise. Ein Gentleman im
altmodischen Sinn des Wortes, der bei mehr als einer Gelegenheit der
Geheimpolizei gute Dienste geleistet hatte und daher dort sehr gut
angeschrieben war.
Seine Eltern und Geschwister waren in
Calais bei dem großen Stuka-Angriff 1940 ums Leben gekommen.
Deville hatte seiner schlechten Augen wegen den Krieg nicht als Soldat
mitgemacht. Er arbeitete damals als Schreiber in einer Anwaltskanzlei
und war zusammen mit Tausenden seiner jungen Landsleute als
Zwangsarbeiter nach Ostdeutschland und Polen geschickt worden.
Wie viele Franzosen, die sich bei
Kriegsende jenseits des Eisernen Vorhangs befanden, hatte er Frankreich
erst 1947 wiedergesehen. Da alle seine Angehörigen in Calais tot
waren, ließ er sich in Paris nieder, wo er als
Kriegsgeschädigter ein Stipendium erhielt und an der Sorbonne das
juristische Staatsexamen ablegte.
Mit den Jahren wuchs sein Ruf als Anwalt. 1955
hatte er seine Sekretärin geheiratet, doch die Ehe blieb
kinderlos. Madame Deville war schon immer von zarter Gesundheit gewesen
und
starb nach zwei Jahren qualvollen Siechtums an Magenkrebs.
Devilles Tüchtigkeit und sein schweres Schicksal hatten ihm
allerseits Sympathie eingetragen, nicht nur bei
der Polizei und seinen eigenen Standesgenossen, sondern auch in den
Kreisen der Unterwelt – was man nur als Ironie empfinden konnte,
wenn man wußte, daß dieser biedere und angesehene Franzose
in Wahrheit Oberst Nikolai Ashimow war, ein Ukrainer, der seine Heimat
vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum letztenmal gesehen hatte.
Vermutlich war er sogar der wichtigste Einzelagent des russischen
Geheimdienstes in Westeuropa. Kein Agent des KGB, sondern der
rivalisierenden Nachrichtenabteilung der Roten Armee, bekannt als GRU.
Die Russen hatten schon vor
Kriegsende an verschiedenen Orten der Sowjetunion Agentenschulen, jede
ausgerichtet auf ein bestimmtes Einsatzgebiet wie zum Beispiel die
Schule in Glacyna, wo Spione, die später in englischsprechenden
Ländern arbeit en sollten, in der getreuen Nachbildung einer
englischen Stadt wohnten und dort genau so lebten wie dann später
im Westen.
Ashimow verbrachte zwei lange
Ausbildungsjahre an einer ähnlichen Schule in Grosnia, wo alles
auf einen Einsatz in Frankreich ausgerichtet war, Umgebung, Kultur,
Küche und Kleidung, alles getreu nach französischem Muster.
Er war von Anfang an im Vorteil
gewesen, weil er eine französische Mutter hatte. Er machte rapide
Fortschritte und wurde alsbald in eine Gruppe französischer
Zwangsarbeiter in Polen eingeschleust und teilte deren Sklavendasein
unter dem Namen Jean Paul Deville, eines Mannes, der 1945 in einem
sibirischen Kohlenbergwerk an Lungenentzündung gestorben war. Und
dann, im Jahr 1947, war er heimgeschickt worden – heim nach
Frankreich.
Deville füllte Jarrots Cognacglas aufs neue. «Los, trinken Sie
aus, ich sehe Ihnen an, daß Sie's nötig haben. Eine phantastische Geschichte.»
«Ich kann mich doch auf Sie verlassen, maître, nicht wahr?» drängte Jarrot. «Ich meine, daß die Polizei nicht davon Wind bekommt.»
«Mein lieber Mann», sagte
Deville beschwichtigend. «Wie oft habe ich
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