Solo
«Kopf hoch, Sir, wir kriegen den Kerl.»
«Nicht, wenn's der ist, den ich in Verdacht habe», erwiderte Harry Baker.
Im gleichen Augenblick schritt John
Mikali abermals aufs Podium, um eine weitere stehende Ovation des
Publikums entgegenzunehmen. Dann ging er durch den Korridor ab, den die
Künstler als den «Laufgang» bezeichneten. Der
Inspizient wartete bereits und reichte ihm ein Handtuch. Mikali wischte
sich den Schweiß von der Stirn.
«So, das reicht», sagte
er. «Wer jetzt noch nicht genug hat, muß sich eine Karte
für Dienstag kaufen.»
Seine Stimme klang gewinnend, sie
besaß den aparten Tonfall, den manche Leute als gutes Bostoner
Amerikanisch bezeichnen würden, und paßte zu dem
lässigen Charme, den er beliebig im Handumdrehen entfalten konnte.
«Das haben die meisten bereits
getan, Mister Mikali.» Der Inspizient lächelte. «Der
Champagner steht in Ihrer Garderobe bereit. Lassen Sie Besucher
zu?»
«Niemand unter einundzwanzig,
George.» Mikali lächelte. «Ich habe eine sehr junge
Woche hinter mir.»
Im Grünen Zimmer legte er Frack
und Hemd ab und schlüpfte in einen Hausmantel. Dann schaltete er
das Transistorradio auf dem Toilettentisch ein und griff nach der
Champagnerflasche. Er gab ein wenig zerstoßenes Eis ins Glas und
füllte es.
Als er den ersten erlesenen eiskalten
Schluck kostete, wurde die Radiomusik durch eine Meldung unterbrochen.
Mister Max Cohen, hieß es, der am frühen Abend von einem
unbekannten Attentäter angeschossen wurde, sei erfolgreich
operiert worden. Er befinde sich jetzt unter schwerer Polizeibewachung
auf der Intensivstation. Es bestehe gute Aussicht auf eine völlige
Genesung.
Eine ausländische Nachrichtenagentur meldete,
zu dem Überfall habe sich die Gruppe Schwarzer September der
AlFatah-Bewegung bekannt, die 1971 zur Ausrottung aller Feinde der
Palästinensischen Revolution gegründet worden war. Als Motiv
habe die Gruppe Maxwell Cohens massive Unterstützung des Zionismus
angegeben.
Mikali schloß sekundenlang die
Augen, sah hinter den geschlossenen Lidern den brennenden Lastwagen,
die vier Fellachen von dort auf sich zuhalten, sah das Grinsen auf dem
Gesicht des Anführers, des Mannes mit dem Messer in der Hand. Und
dann wechselte das Bild: die Dunkelheit im Tunnel, aus der das
weiße, entsetzte Gesicht des Mädchens aufblitzte.
Er öffnete die Augen, stellte
das Radio ab und trank seinem Spiegelbild zu. «Weniger als
Perfektion, alter Freund. Weniger als Perfektion, und das reicht ganz
und gar nicht.»
Es klopfte. Als er die Tür
öffnete, sah er, daß sich im Korridor eine Menge junger
Frauen drängten, zumeist Studentinnen, wie die
Universitäts-Halstücher zeigten.
«Dürfen wir hereinkommen, Mister Mikali?»
«Warum nicht.» John
Mikali lächelte, der saloppe Charme schien unerschütterlich.
«Das Leben ist am schönsten beim großen Mikali.
Hereinspaziert in die Höhle des Löwen!»
Baker stand in der Vorhalle des
Leichenschauhauses und begrüßte Francis Wood. Er sah
eigentlich nicht aus wie ein Geistlicher. Baker schätzte ihn auf
etwa sechzig Jahre; ein großer freundlicher Mann mit ergrauendem
Bart, der das Stutzen bitter nötig hatte. Er trug einen dunklen
Mantel und einen hochgeschlossenen blauen Pullover.
«Ihre Frau, Sir?» Baker
nickte hinüber zur Tür, wo Helen Wood mit Mrs. Carter sprach.
«Sie trägt es bemerkenswert gefaßt.»
«Eine äußerst
charakterfeste Frau, Superintendent. Sie malt, wissen Sie.
Hauptsächlich Aquarelle. Unter ihrem früheren Namen war sie
recht bekannt.»
«Morgan, Sir? Ja, ich habe mich schon gefragt … Mrs. Wood
war wohl verwitwet?»
«Nein, Superintendent –
geschieden.» Francis Wood lächelte ein wenig. «Das
dürfte Sie überraschen, wenn Sie die Einstellung der Kirche
von England kennen. Die Erklärung ist aber ganz einfach. Um eine
altmodische Redewendung zu gebrauchen, ich verfüge über
eigene Mittel. Ich kann es mir leisten, aus der Reihe zu tanzen. Gleich
nachdem wir heirateten, hatte ich ein paar Jahre lang keine Anstellung,
dann schrieb mir mein jetziger Bischof wegen Steeple Durham. Nicht
gerade der Nabel der Welt, aber die Leute dort waren schon seit sechs
Jahren ohne Pfarrer und wollten mit mir vorliebnehmen. Und mein Bischof
ist, wenn ich das noch bemerken darf, ein Mann, der für seine
liberalen Ansichten bekannt ist.»
«Und der Vater des
Mädchens? Wo ist er zu erreichen? Wir müssen ihn so
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