Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
herausnahm. »Etwa zehn Jahre alt? In einem verschossenen Overall und langärmeligem Unterhemd?«
Die Augen des Mannes wurden noch größer, wie zwei saure Eier. »Haben Sie ihn etwa auch gesehen?«
»Ja, hab ich«, sagte Sarah. »Aber das ist schon etwas länger her.«
Er wollte ihr das Telefon aus der Hand reißen, doch sie schlug seine Finger weg. »Machen Sie schnell«, rief er. »Vielleicht kann er noch gerettet werden!«
»Der Junge, den Sie gesehen haben, war der kleine Willet Rominger«, antwortete sie. »Wegen dem brauchen wir uns nicht mehr zu beeilen. Der ist tot.«
»Ich habe seine Leiche nicht richtig gesehen. Er wurde gerade unter Wasser gedrückt. Vielleicht treibt er irgendwo flussabwärts.«
»Er ist nicht flussabwärts.«
»Bitte!«, flehte er sie an. Seine Hände zitterten. Aus seiner Nase lief der Rotz, den er schnäuzend wieder hochzog. Vielleicht hatte Sarah mit ihrer Crystal-Theorie ja doch recht. Doch Crystal war mit Sicherheit nicht schuld an der Horrorvorstellung des Mannes.
»Er lag auf dem Rad und wurde immer wieder darauf herumgedreht, stimmt’s?«, fragte Sarah. Jetzt hatte sie keine Angst mehr vor ihm. Stattdessen tat er ihr leid. Die Toten von Solom waren für die Augen der Solomer bestimmt, nicht für Fremde. Da musste der Wanderprediger ja ziemlich tief in seine schauerliche Trickkiste gegriffen haben, wenn jetzt schon jeder beliebige Fremde seine Opfer sehen konnte!
Der Mann strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht, ging einen Schritt zurück und blickte aus dem Ladenfenster. Wahrscheinlich wollte er schauen, ob man vom Ladentisch aus den Damm sehen konnte. Ein Schütteln ging durch seinen Körper, und Sarah konnte nicht sagen, ob es vor Kälte oder vor Schreck war. Er wusste es wahrscheinlich selber nicht.
»Ich habe ihn nicht diesmal gesehen«, erklärte Sarah. »Ich habe ihn vor etwa zwanzig Jahren gesehen.«
Der Mann schaute ihr direkt ins Gesicht. Sein Augenlid zuckte. »Wen? Den Jungen?«
»Ich war nicht die Erste, die ihn gesehen hat, und Sie waren auch nicht erst der Zweite«, sagte sie. »Willet erscheint immer mal wieder. So wie auch die anderen.«
»Welche anderen? «
Jetzt kam er nicht mehr mit. Sarah hätte es wissen müssen. Solom hatte seine Geheimnisse, und Fremde konnten diese nicht verstehen. »Wo ist eigentlich das Mädchen, mit dem Sie heute Mittag hier waren?«
»Meine Tochter? Die ist zu Hause.« Als er »zu Hause« sagte, zog er ein Gesicht, als habe er gerade in eine saure Stachelbeere gebissen.
»Lassen Sie sie dort. Und jetzt machen wir weiter im Text.«
Der Mann lehnte sich nach vorn und packte sie an ihrer Strickjacke. Ein Tropfen Spucke landete auf ihrer Wange, als er sprach. »Wenn es hier irgendeine Gefahr gibt, dann will ich es wissen!«
»Hey, fassen Sie mich ja nicht an!« Sarah grub ihre Fingernägel in die Handgelenke des Mannes und drückte so sehr, bis er endlich nach unten schaute. Er ließ sie los und schaute auf seine Hände, als ob dort ein Stigma erschienen wäre.
»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich … verdammt …«
»Die Seelen wandeln«, sagte Sarah, und ein Schwall des Mitleids durchfuhr sie. Wenn die Rothaarige seine Exfrau war und diese kleine Schlampe seine Tochter, dann gehörten sie alle jetzt auch zu Solom, denn sie hatten in den Smith-Clan eingeheiratet. Also waren sie auch ein Teil des Spiels, das sich der Wanderprediger diesmal ausgedacht hatte.
»Harmons Seelen«, erzählte sie weiter. »Die er zu sich geholt hat. Sie kommen wieder, wenn er wiederkommt. Passen Sie gut auf, dass Ihre Tochter heute Nacht im Haus bleibt, und dann sehen Sie zu, dass Sie möglichst schnell weit weg von hier kommen. Das geht Sie alles nichts an.«
»Wenn meine Tochter da irgendwie drinhängt, werde ich nirgendwo hingehen!«, erwiderte er.
»Ganz wie Sie wollen. Aber ich kann Ihnen auch nicht weiterhelfen.«
»Sie hat irgendwas von einem Mann mit schwarzem Hut erzählt.«
»Harmon Smith.« Vor Sarahs Augen tanzten schwarze Schatten, wie zerrissene Gewitterwolken. Nein, sie würde jetzt hier nicht wieder in Ohnmacht fallen. Sie hatte nichts zu befürchten. Harmon wollte sie nicht holen, diesmal nicht. Ansonsten hätte er sie schon an dem Tag mitgenommen, als er bei ihr im Laden erschienen war.
»Ich glaube, ich habe ihn unten am Damm gesehen. Wo ist er?«
Sarah stützte sich auf den Ladentisch und kämpfte mit dem Schwindel. »Er ist überall. In den Bäumen, im Fluss, in den Scheunen. Das Beste, was wir tun
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