Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
nicht genug –, als das Fliegengitter an der Tür mit einem Knall aufsprang. Ein Mann quetschte sich hindurch. Er war klitschnass, das Hemd hing ihm aus der Hose, seine Knie waren dreckverschmiert. Er hatte nur einen Schuh an, und seine Socke machte bei jedem Schritt platschende Geräusche. Rund um seine Pupillen war das Weiße zu sehen, als ob ihm ein Arzt gerade überraschend den Finger in den Hintern gesteckt hätte.
Sarah erkannte ihn. Er war eher schon mal dagewesen, als er sich mit einem jungen Mädchen bei ihr etwas zu Mittag geholt hatte. Das Mädchen kannte sie. Sie war ja auch schwer zu übersehen, so wie sie sich immer aufdonnerte. Mit Lippenstift und schwarzem Kajal. Die rothaarige Mutter des Mädchens schaute ab und zu bei ihr im Laden vorbei und kaufte ein paar Eier, Backpulver und Mehl. Manchmal holte sie sich auch einen guten Rat für die Küche bei Sarah. Die Rothaarige hatte im Juni Gordon Smith geheiratet. Das hatte ziemlich für Aufsehen gesorgt. Aber dieser Typ hier schien nicht in die Familienwelt der Smiths zu passen.
Er war wahrscheinlich auf Angeltour, ohne wirklich Ahnung davon zu haben. Bestimmt waren ihm seine Watstiefel abhanden gekommen, nachdem er zu tief in die Flasche geschaut hatte. Oder er hatte sich bei Sue Norwood ein Kanu gemietet und war unten bei den Inseln ins Wasser gefallen, dort wo der Fluss langsam wild wird. Verletzt schien er nicht zu sein, aber sein Gesicht war so bleich wie der Käse in ihrem Regal. Vielleicht war er einer dieser Crystal-Junkies, von denen sie gelesen hatte. Die schienen ja heutzutage überall zu sein. Das Zeug kochten sie im Kofferraum ihrer Autos auf. Sie hatte keine Ahnung, was Crystal so richtig war oder was es mit den Leuten anstellte. Aber es würde sie nicht überraschen, wenn man davon in den Fluss fiel.
»Sind Sie okay?«, fragte sie den Mann und schob die Zwanzig-Dollar-Scheine unter die Kasse, falls er sie ausrauben wollte. Die Schrotflinte unter dem Ladentisch war geladen und schnell zur Hand, wenn es sein musste. Dafür hatte sie nach dem jüngsten Besuch des Wanderpredigers in ihrem Laden schon gesorgt. Nicht, dass ein bisschen Schrot einer Kreatur, die schon seit zweihundert Jahren tot war, etwas anhaben konnte. Aber es ging um das Gefühl der Sicherheit.
»Ich habe kein Kleingeld dabei«, sagte der Mann. Er sprach nicht wie ein Yankee, aber von hier war er auch nicht.
»Normalerweise nehmen wir auch Kreditkarten, aber ich schließe gerade.«
»Nein, ich meine, ich brauche mal Ihr Telefon.«
Beide schauten auf das alte Ladentelefon. Es war ein uraltes schwarzes Ding mit Wählscheibe. Es sah aus, als wäre es direkt aus einer Amtsstube der 1950er Jahre entsprungen. Sarah mochte den guten, alten Klingelton. Er klang ehrlich, nicht wie das Mauzen eines Kätzchens so wie bei diesen neumodischen Dingern. Das konnte man in ihrem Alter doch fast gar nicht mehr hören. Die meisten Leute hatten ihre Telefone heutzutage in der Tasche. Als ob es eine Tugend wäre, niemals eine Minute allein zu sein. Das Münztelefon am Ladeneingang brachte kaum noch so viel ein, wie die Wartung kostete. Der Telefonmann hatte schon ein paar Mal angedroht, es abzubauen. Doch Sarah konnte ihn immer wieder überzeugen, dass ein solcher Münzfernsprecher so schön zu ihrem Tante-Emma-Laden passte.
»Das ist kein öffentliches Telefon«, sagte Sarah. Sie fand es ziemlich unverschämt, dass ein Fremder, der bis zum Hals durchnässt war, einfach so hereinstürmte und so tat, als wäre er hier zu Hause. Als wäre das hier ein Museum, das nur zu seinem Vergnügen errichtet worden war. Er hatte ihr nach dem Mittagessen zwar ein gutes Trinkgeld gegeben, aber das war schließlich schon ein paar Stunden her.
Der Mann legte seine Hände flach auf den Ladentisch und beugte sich nach vorn. Von seinem Kinn tropfte Wasser und hinterließ Flecken auf der zerkratzten Ahorntheke. Er atmete schwer, so schwer, dass sein Atem die Folie der Lakritzstangen zum Knistern brachte, die in einem Glas neben der Kasse standen. Er roch nicht nach Schnaps. Ihre Theorie vom betrunkenen Angler stimmte also wohl eher nicht.
»Es ist jemand ertrunken!«, presste er hervor.
»Um Gottes Willen, warum sagen Sie das nicht gleich?«, rief Sarah. »Wo denn?« Sie schnappte das Telefon und wählte den Notruf.
Er zeigte hinter sich, zum alten Damm. »In der Mühle. Ein Junge ist in das Wasserrad geraten.«
Sarah hatte die Wählscheibe schon fast bis zum Anschlag gedreht, als sie ihren Finger wieder
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