Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Everharts auf dem Gewissen hatte. Außerdem musste jemand für den Schaden an den Rädern aufkommen. Und da der Wanderprediger nicht mit barer Münze zahlen konnte, hoffte sie, auf andere Weise zu ihrem Anteil zu kommen.
»Sind Sie bereit?«, fragte sie mit einem Seitenblick auf Sarah. Vielleicht hatte die Altersweisheit der jugendlichen Unbekümmertheit etwas voraus, denn Sarah klammerte sich am Haltegriff fest und starrte geradeaus in den Wald.
»Ich weiß wirklich nicht, warum Sie mich mitgenommen haben«, sagte die alte Verkäuferin. »Wenn ich mich um Harmon Smith hätte kümmern sollen, dann hätte ich es sicher vor langer, langer Zeit getan.«
Sue schwang die Axt, so dass sich die letzten Sonnenstrahlen darin spiegelten. »Vielleicht hatten Sie nur nicht das richtige Werkzeug.«
»Und was, verdammt noch mal, sollte ich damit anfangen? Damit auf sein Herz einschlagen, als wäre er ein stumpfsinniger Vampir?«
»Ich glaube, das werden wir sehen, wenn es so weit ist. Ich höre einfach auf mein Bauchgefühl.«
»Sie tun ja gerade so, als hätten Sie sowas schon mal gemacht.«
Sue schaltete die Autoscheinwerfer an und suchte damit die stillen Bäume ab. »Nein. Ich will nur nicht so lange warten, bis Harmon Smith das nächste Mal beschließt, hierherzukommen. Solom ist jetzt mein Zuhause.«
»Ihr Jungspunde seid so schrecklich wagemutig. Mich wundert’s, dass ihr nicht alle in jungen Jahren sterbt!«
»Nun, Miss Jeffers, ich will ja nicht respektlos erscheinen, aber wenn die Solomer dieses Problem gleich in Angriff genommen hätten, dann wäre der Spuk jetzt vielleicht schon längst vorbei.«
Sarahs Stimme wurde schwach, sie klang jetzt fast wie eine winselnde alte Oma. »Wir wussten doch nicht, was er will. Wir dachten, er kommt einfach und holt sich jemanden und das war es dann. Immer, wenn er wieder weg war, machten die, die verschont geblieben waren, drei Kreuze und dann ging das Leben einfach weiter. Das ist vielleicht das Schlimmste überhaupt. Denn bis er wieder zurückkommt und all die Leute, die er getötet hat, wieder auftauchen, kriegt man es irgendwie hin, das alles zu vergessen.«
Sue kramte eine Taschenlampe unter dem Sitz hervor und stieß die Tür auf. »Dieses Mal wird keiner etwas vergessen.«
»Ich hoffe, dass er Sie nicht holt«, sagte Sarah. »Aber ich hoffe auch, dass ich es nicht sein werde. Und wenn es doch einen von uns treffen sollte, dann soll er lieber Sie holen als mich. Ist nicht persönlich gemeint.«
Sue musste beinahe lächeln, trotz des Kloßes, der ihr im Hals steckte. Ihr Mut war zum größten Teil nur aufgesetzt, doch Sarah war eindeutig gerührt. Sue musste jetzt für sie beide stark sein. Sie war überzeugt, dass es Harmon Smith beeindrucken würde, wenn man keine Angst zeigte. Sie ging zu Sarahs Tür und half ihr aus dem Wagen. Dann leuchtete sie mit der Taschenlampe im dunklen Dickicht des Waldes umher.
»Und wohin jetzt?«, fragte Sue.
»Einfach hier herüber«, kam eine Stimme aus dem Dunkel.
45. KAPITEL
Odus schlug sich durch die Büsche und rief nach Sister Mary. Er war jetzt fast nüchtern. Der Mut, den er sich angetrunken hatte, löste sich langsam auf. An seine Stelle trat ein schmerzhafter Nebelschleier in seinem Gehirn. Ein schöner Held war er gewesen, ein tugendhafter Ritter. Sein Traum von sich als Westernstar, der mit rauchendem Colt in eine sündige Stadt einreitet, war zerbröckelt. Jetzt war er nur noch ein abgehalfterter Cowboy, dem sein Gaul abhanden gekommen war.
Die Dunkelheit der Septembernacht kam weniger von oben als vielmehr aus den kühlen, uralten Bergen. Die schwarze Nacht kroch aus den rauen Granitblöcken, hervor zwischen den Wurzeln der alten Eschen und Buchen und Nussbäumen, aus den versteckten Löchern dieser Erde. Sie warf ihr eintöniges Schwarz in einer erstickenden Zwangsjacke über die Welt. Die Dunkelheit war überall und stach bei jedem Atemzug in Odus’ Lungen. Noch nie hatte er sich so fremd auf diesem Planeten gefühlt, wie ein Eindringling in seiner eigenen Welt. Eigentlich hatte er noch nie darüber nachgedacht.
Er hatte in diesen Bergen gejagt, hatte Eichhörnchen, Truthähne und ab und zu auch Schwarzbären nachgestellt, doch er war immer als Eroberer hierhergekommen. Aber jetzt, da er in ihren dunklen Krallen gefangen war und keine Peilung mehr hatte, erkannte er, wie sinnlos es war, etwas zu beanspruchen, das so alt war wie die Appalachen. Diese Berge gehörten keinem Menschen. Wenn jemand
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