Solomord
ein Versehen gewesen? Hatte Wagner sie gar nicht umbringen wollen?
Brandt kratzte sich hinter seinem linken Ohr. Es fiel ihm schwer, sich in den anderen hineinzuversetzen. Für gewöhnlich machte ihn diese Fähigkeit jedoch bei der Klärung seiner Fälle besonders erfolgreich. Irgendwie hatte er die Gabe, tief in ein anderes Ich hinabzutauchen und die Dinge mit den Augen des Täters zu sehen und zu verstehen. Aber in diesem Fall fand er keinen Zugang zu dem Mann, der kleine Mädchen aus einem ihm unerklärlichen Grund entführte. Was hatte Wagner vor?
Er blickte sich wieder in dem altmodisch eingerichteten Raum um, der ihn an die Wohnung von Mia von Seitz erinnerte. Zwar schien hier nicht alles ganz so pedantisch geordnet, dennoch ähnelten sich die Räume in einer gewissen Art und Weise. Hatte das Verschwinden der Mädchen vielleicht etwas mit Wagners Vergangenheit zu tun? War er in der Zeit gefangen, in der er selbst ein Kind gewesen war? Die Möbel im Wohnzimmer und das zweite Schlafzimmer, welches wie ein Museum wirkte, ließen darauf schließen. Die Nachbarin der Toten hatte doch etwas über einen tragischen Tod der Schwester erzählt. War darin vielleicht das Motiv Wagners verankert? Er wollte gerade zu seinem Handy greifen, um Teichert zu bitten, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, als er hörte, wie ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür herumgedreht wurde.
»Möchtest du auch eine Cola?«
Lore stand vor dem Kühlschrank und blickte fragend auf den Kollegen ihres Vaters, der leicht verkrampft am Küchentisch saß. Teichert nickte wortlos.
Die Stimmung war angespannt. Er fragte sich immer noch, ob sie tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen hatten. Wagner war nicht ungefährlich, schließlich hatte er ein Mädchen auf dem Gewissen. Man konnte nicht voraussehen, wie er auf die Anwesenheit Brandts in seiner Wohnung reagieren würde. Vielleicht war er bewaffnet. Möglicherweise würde er in Panik geraten und seinen Kollegen bedrohen oder sogar angreifen. Auf der Polizeischule hatte er gelernt, dass man den Partner niemals allein in solchen Situationen lassen durfte. Unter gar keinen Umständen waren Alleingänge erlaubt. Aber Brandt hatte darauf bestanden und Teichert hatte sich nicht getraut, dem erfahrenen Kollegen zu widersprechen. Trotzdem oder vor allem deswegen plagten ihn nun Zweifel an der Korrektheit der gemeinsam beschlossenen Vorgehensweise.
Auf der einen Seite hatte er Brandt natürlich zugestimmt. Den Überraschungseffekt auszunutzen, wenn man Wagner in seiner Wohnung überrumpelte und mit den Anschuldigungen konfrontierte, barg die Möglichkeit eines schnellen Geständnisses. Wie viel dieses wert sein würde, konnte er nicht einschätzen und vertraute auf die Erfahrung des Kollegen. Was aber, wenn ihr Plan nicht funktionierte, wenn der Mann sich wehren würde? Jemand, der zwei Mädchen entführt und eines davon sogar getötet hatte, war nicht ungefährlich. Unter Umständen würde Brandt gar nicht die Gelegenheit haben, Teicherts Nummer zu wählen. Sie hatten abgesprochen, sobald Wagner die Wohnung betrat, würde Hagen ihn anrufen. Er wollte dann das Gespräch mit Lores altem Kassettenrekorder aufzeichnen. Sollte es brenzlig werden, würde er die Kollegen verständigen und ihm zur Hilfe eilen.
Sie stellte das Glas mit der braunen, perlenden Flüssigkeit vor ihm auf den Tisch und setzte sich zu ihm.
»Was genau macht Papa jetzt?«
Brandt hatte darauf bestanden, dass seine Tochter von der ganzen Sache nichts mitbekommen sollte. Er wollte nicht, dass sie sich aufregte, und schon gar nicht sollte sie erfahren, dass sie mit einem Mörder unter einem Dach lebte. Teichert hatte sich an die Anweisung gehalten und zuckte auch jetzt nur mit den Schultern. Er griff zu dem Glas und trank es in einem Zug leer. Doch Lore ließ nicht locker.
»Wofür brauchst du meinen Rekorder?«
Sie hatte das alte Gerät aus ihrem Zimmer geholt. Eine Leerkassette hatte sie nicht mehr besessen, sich aber überreden lassen, eine Aufzeichnung eines Sarah-Connor-Konzerts zum Überspielen zu opfern, nachdem er ihr versprochen hatte, ihr die neueste CD von der Popsängerin zu besorgen.
»Kann sein, dass ich was aufnehmen muss.«
»Und was?«
Er versuchte, schnell das Thema zu wechseln.
»Warst du nicht heute in Ratingen?«
Sie nickte zwar, ging aber nicht weiter auf seine Frage ein. Vielmehr schien es, als habe sie von der Unruhe im Haus und dem Wirbel um den Nachbarn bereits mehr mitbekommen als
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