Solomord
ihrem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander, die sich allerdings immer und immer aufs Neue um die gleichen Fragen drehten. Wann komme ich hier raus? Was hat der Mann mit mir vor? Muss ich sterben?
Ängstlich blickte sie ihn an. Er wirkte völlig entspannt. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fasste die in ihrem Kopf kreisenden Gedanken in Worte.
»Wann lassen Sie mich wieder frei?«
Er stand auf und seufzte laut.
»Yvonnchen, warum bist du so undankbar? Ich gebe mir wirklich alle Mühe, es dir so angenehm wie möglich zu machen. Ich habe mir sogar eine ganz große Überraschung ausgedacht.«
»Eine Überraschung?«
Er nickte eifrig und trat auf sie zu. Seine Augen leuchteten begeistert, als er ihr von der geplanten Reise erzählte.
»An die Ostsee! Wir fahren genau dahin, wo wir schon einmal mit Mama und Papa gewesen sind.«
»Mit Mama und Papa?« Sie verstand nicht, was er damit meinte.
Er ging auf ihre Frage jedoch gar nicht ein, sondern schwärmte von einem kleinen, ruhigen Ort, direkt am Strand gelegen. Sie würden Strandburgen bauen, Drachen steigen lassen und im Meer baden. Es sei bereits alles organisiert, berichtete er freudestrahlend.
»Es wird ganz toll. Du wirst sehen, Yvonne!«
Das seltsame Gefühl in ihr verflüchtigte sich langsam und machte Platz für eine Art Hoffnung, die sie bei dem Gedanken an die bevorstehende Reise verspürte. Wenn er sie von hier wegbrachte, mit ihr an die Ostsee fuhr, bestand vielleicht die Chance, dass sie flüchten, ihm entkommen konnte. Sie brauchte das Spiel nur mitzuspielen, und alles würde gut werden, redete sie sich ein. Vorausgesetzt, er bemerkte nichts von ihren Absichten. Sie versuchte zu lächeln und stimmte ihm begeistert zu.
»Und wann fahren wir los?«
Sie konnte die geplante Abreise kaum erwarten.
»Schon bald, Yvonne. Sehr bald!«
15
Er hatte es sich, so gut es ging, in dem alten Ohrensessel im Wohnzimmer bequem gemacht. Das Polster war kratzig und roch leicht muffig.
Sicherlich ein Erbstück, dachte er. Warum sonst stellte man sich ein so altes, klobiges Möbelstück in seine Wohnung?
Als er sich jedoch näher umblickte, fiel ihm auf, dass das gesamte Mobiliar recht alt und gediegen wirkte. Die massive Standuhr, deren Pendel unbeirrt hin und her schwang, der kleine Nierentisch, der Holzschnitt nach Dürer. Es schien, als sei die Zeit in diesem Raum stehen geblieben. Genauso wie in dem Schlafzimmer mit den Puppen und Plüschtieren.
Er rutschte ein wenig tiefer in den Sessel und kreuzte die Beine. Teichert und er hatten beschlossen, dass es besser war, hier auf Wagner zu warten. Der Koffer auf dem Bett deutete darauf hin, dass er vorhatte, noch einmal zurückzukehren. Wenn sie jetzt eine groß angelegte Fahndung ausriefen, bestand die Gefahr, dass er etwas mitbekommen und untertauchen würde. Das wollten sie auf keinen Fall riskieren. Deshalb wartete er, in diesem Sessel sitzend, auf Wagners Rückkehr, während Teichert sich ein Stockwerk höher in Brandts Wohnung zurückgezogen hatte.
Die Standuhr schlug sechs Mal, instinktiv blickte er auf seine Armbanduhr und verglich die angezeigte Zeit. Wann Wagner wohl heimkehren würde? Ob er überhaupt heute nach Hause kam? Er machte sich auf eine lange Nacht gefasst, in der ihm viel Zeit blieb, sich über das Motiv des Mannes, der nur ein Stockwerk unter ihm lebte, Gedanken zu machen.
Was hatte Wagner dazu bewogen, die beiden Mädchen zu entführen? Dass er für Michelle Roeders Verschwinden und deren Tod ebenfalls verantwortlich war, stand für Brandt außer Frage. Aber das erste Mädchen war weder missbraucht noch misshandelt worden. In das Raster eines Sexualtäters passte er also gar nicht hinein. Außerdem hatte er die Entführung und das, was er anschließend mit den Mädchen vorhatte, gut geplant und durchdacht. Der Kauf des Kleintransporters auf den Namen seiner toten Mutter, die gut verwischten Spuren, sein unauffälliges Auftreten und auch die vorbereitete Reise deuteten auf eine schlaue und überlegte Vorgehensweise. Der Mord an Michelle Roeder passte allerdings überhaupt nicht ins Bild. Wenn Wagner das Mädchen nicht aus sexuellen oder sadistischen Beweggründen entführt hatte, warum brachte er es dann um?
Der Koffer mit den gepackten Sachen im Schlafzimmer wies eindeutig darauf hin, dass er vorhatte, eine Reise zu unternehmen. Dass er Marie Priebe mitnehmen würde, davon ging Brandt aus. Aber wieso hatte er diese Reise nicht schon mit Michelle angetreten? War ihr Tod vielleicht
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