Solomord
Meter durch die Luft geschleudert. Das Mädchen war noch am Unfallort verstorben.
Er betrachtete die Bilder des Wagens und augenblicklich schoben sich seine eigenen Erinnerungen vor die Hochglanzfotos in seiner Hand.
Margits lebloser Körper, der blutüberströmt neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Ihr ausdrucksloser Blick, der auf die geborstene Windschutzscheibe gerichtet war. Mit zitternden Händen hatte er versucht, ihre Hand zu ergreifen, hatte in Panik immer wieder ihren Namen gerufen: »Margit! Margit!«
Noch heute hörte er den Klang seiner verzweifelt krächzenden Stimme. Die Worte hallten in seinem Kopf wider und wider. Ein Echo jener Zeit, das seine Persönlichkeit Tag für Tag prägte und sein Handeln beeinflusste – wahrscheinlich genauso wie Wagner der Unfall seiner kleinen Schwester. Er schloss die Augen und holte tief Luft, ehe er zu seinem Kaffeebecher griff, einen kräftigen Schluck nahm und sich wieder der Akte von Yvonne Wagner widmete.
Der Fahrer des Wagens hatte sich damals selbst für schuldig erklärt. Überhöhte Geschwindigkeit und Trunkenheit am Steuer – da hätte er sich sowieso schwerlich rausreden können. Das Mädchen am Straßenrand hatte er nach eigener Aussage nicht gesehen, erst als es einen lauten Knall gegeben hatte und er etwas durch die Luft hatte fliegen sehen, war er sich der Situation, nämlich dass er einen Menschen überfahren hatte, bewusst geworden und hatte reagiert. Aber da war es schon zu spät gewesen. Der leblose Körper hatte mitten auf der Straße vor ihm gelegen.
Ein tragischer Unfall – wie es die Nachbarin von Frau Wagner erzählt hatte –, aber einer von vielen. Solche Fälle gab es jeden Tag und überall. Leider.
Sicherlich hatte der Verlust der Schwester Michael Wagners weiteres Leben stark beeinflusst. Wenn man einen lieben Menschen verlor, brachte das immer unliebsame Veränderungen mit sich, das wusste er selbst am besten.
Aber der Junge war damals bereits 14 Jahre alt gewesen, also in seiner Persönlichkeit schon recht gefestigt, zumindest zum größten Teil. Dass der Unfall eine Art Trauma in ihm ausgelöst hatte, das unter Umständen erst jetzt seine Auswirkungen fand, war zwar möglich, aber doch eher unwahrscheinlich. War er denn überhaupt bei dem Unglück dabei gewesen? Hatte er die tote Schwester zu Gesicht bekommen?
Er blätterte in der Akte. Etwas weiter hinten fand er die Zeugenaussagen. Yvonne war in Begleitung ihres Bruders gewesen. Die Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, dass zwei Kinder am Straßenrand gestanden hatten.
Er griff nach seinem Kaffeebecher und stürzte den Rest des lauwarmen Getränks hinunter, der einen bitteren Nachgeschmack in seiner Mundhöhle hinterließ.
Wieso hatten sie nicht gleichzeitig die Straße überquert? War dem Unfall vielleicht ein Streit vorausgegangen und die Schwester vor ihm weggelaufen?
Er überflog die letzten Aussagen flüchtig. Sie ähnelten einander. Die Kinder am Straßenrand, der auf sie zurasende Wagen, der Knall, ein Schrei.
Nur eine Darstellung der Situation unterschied sich von den anderen. Eine Frau wollte gesehen haben, dass Michael Wagner seine Schwester auf die Straße geschubst hatte.
Er holte tief Luft und presste sie anschließend durch seine leicht gespitzten Lippen. Die Bedienung am Tresen blickte zu ihm herüber. Schnell packte er die Akte zusammen, lächelte ihr selbstzufrieden zu und verließ eilig die Cafeteria.
Ohne anzuklopfen, stürmte er ins Büro und überraschte Teichert und die Assistentin, die, wild knutschend, halb auf dem Schreibtisch lagen.
»Ich hab’s!«, rief er beim Betreten des Raumes und ignorierte die peinlich berührten Blicke der beiden.
»Wagner hat seine Schwester auf dem Gewissen. Wusste ich doch, dass das was mit ihr zu tun hat. Auf mein Bauchgefühl ist halt Verlass.«
Sonja Munkert verließ fluchtartig und mit hochrotem Kopf das Büro.
»Wir haben uns wieder vertragen«, versuchte sein Kollege, die Situation zu erklären, doch Brandt fiel ihm ins Wort.
»Für Liebeleien haben wir jetzt keine Zeit. Darum kannst du dich nach Aufklärung des Falls kümmern. Also, wie sollen wir vorgehen? Ich bin der Meinung, wir müssen Wagner damit konfrontieren. Nur so haben wir eine Chance, ihn zu überführen. In dem Unfall liegt sicherlich die Motivation seiner Tat begründet.«
»Das überlasse ich ganz dir. Du hast da mehr Erfahrung.«
Teichert fühlte sich plötzlich überfordert. Lange hatte er darauf gewartet, auch endlich mal zum
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