Solomord
nicht ein bisschen früher?«, fragte er gereizt.
Sie beachtete ihn gar nicht und schrieb weiter einige Vokabeln und deren Übersetzung in ein Heft.
Auf dem Nachhauseweg war ihm plötzlich seine neugierige Nachbarin in den Sinn gekommen. Er wusste nicht wieso, aber vielleicht waren ihr nähere Einzelheiten aus Wagners Leben bekannt, die ihnen bei der Suche nach Marie Priebe weiterhelfen konnten. Wenn einer die Bewohner des Hauses kannte, dann Frau Lüdenscheidt, schließlich quetschte sie jeden erbarmungslos aus, der ihr in die Quere kam. Doch auch nach mehrmaligem Klingeln hatte die ältere Dame nicht geöffnet. Seltsam, hatte er gedacht, die ist doch sonst immer zu Hause. Er hinterließ einen Zettel mit der Bitte, sich umgehend bei ihm zu melden, dann rief er Teichert an.
»Versuch doch mal die Nachbarin von der Seitz zu erreichen. « Wenn diese nur halb so interessiert an dem Leben ihrer Mitbewohner war wie Frau Lüdenscheidt, war es gut möglich, dass sie von ihr noch weitere Hinweise erhalten konnten.
»Hast du schon etwas gegessen?«
»Bei Oma.«
Er atmete erleichtert auf, denn er hatte selbst keine Lust auf Rührei mit Brot gehabt und etwas anderes wäre ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.
»Ich geh nach oben. Muss noch ein paar Kabel verlöten.«
Lore nickte. Er wollte gerade die Küche verlassen, als sie ihn zurückrief: »Du, Papa?«
Er drehte sich um.
»Hat Herr Wagner tatsächlich Marie entführt?«
Unsicher blickte sie ihn an. Ihr komplettes Weltbild war aus den Fugen geraten. Jemand hatte eine Schulfreundin entführt, und dass dieser Jemand ein Mann war, mit dem sie Tag für Tag unter demselben Dach gelebt hatte, dem sie beinahe täglich begegnet war, machte ihr Angst. Wem konnte sie noch trauen? Sie wirkte total durcheinander.
Er setzte sich zu ihr an den Küchentisch und legte behutsam seine Hand auf ihre Schulter.
»Ich fürchte, ja.«
Er spürte ihre Anspannung und wünschte sich nichts sehnlicher, als etwas Beruhigendes zu ihr sagen zu können. Doch das war nicht so einfach. Er konnte selbst kaum begreifen, wie dieser nette, unauffällige Mann so etwas hatte tun können. Das Motiv war ihm zwar bekannt und er konnte den anderen sogar ein Stück weit verstehen. Auch er hatte einen lieben Menschen verloren und fühlte sich schuldig. Er kannte die Qualen, die Wagner all die Jahre durchgemacht haben musste, er selbst litt seit dem Unfall unter seinem schlechten Gewissen. Wenn er nicht zu schnell gefahren wäre, wenn er achtsamer gewesen wäre, wenn … Aber er konnte die Zeit nun mal nicht einfach zurückdrehen, musste mit seinen Schuldgefühlen leben. In diesem Punkt könnte er nachvollziehen, was in Wagner vorgegangen sein musste, aber seine Taten rechtfertigte das noch lange nicht und auf keinen Fall änderten sie etwas an dem, was geschehen war.
»Ich kann verstehen, dass du verunsichert bist, Lore. Aber dass ausgerechnet unser Nachbar der Entführer von Marie ist, das ist reiner Zufall. Du brauchst deswegen keine Angst zu haben.«
»Habe ich aber. Wer sagt mir denn, dass nicht auch Frau Lüdenscheidt oder Herr Lehmann morgen vielleicht jemanden umbringen?«
»Ich.«
Er blickte ihr direkt ins Gesicht und für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, als habe er sie überzeugen können. Doch dann kehrten die Zweifel in ihren Blick zurück und sie erinnerte ihn daran, dass er auch gesagt hatte, dass sie Michelle Roeder rechtzeitig finden würden.
»Das war ein Unfall. Ich glaube nicht, dass Herr Wagner Michelle mit Absicht umgebracht hat. Er wollte sie nur betäuben und hat das Beruhigungsmittel zu hoch dosiert. Glaub mir, er wollte das Mädchen nicht umbringen. Wir werden Marie finden. Es kann nicht mehr lange dauern.«
Sie blickte ihn immer noch zweifelnd an, aber er war diesmal überzeugt von dem, was er sagte. Schon bald würde Wagner gestehen und ihnen verraten, wo er das Mädchen versteckt hielt. Davon ging er fest aus.
Nachdem Lore ins Bett gegangen war, hatte er sich eine Flasche Rotwein geöffnet und es sich im Wohnzimmer bequem gemacht. Seit Langem dachte er einmal wieder an Frau Lutz. Nach dem letzten Telefonat mit der Lehrerin hatte er sich auch einen Wein gegönnt. Er fragte sich, warum ihm die attraktive Frau ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Seit der Erstellung des Phantombildes hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er hatte einfach zu viele andere Dinge im Kopf gehabt. Aber nun, da der Fall sich anscheinend langsam seinem Ende neigte und er sich innerlich
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