Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
und wurde, sozusagen zur Belohnung für all die Mühe, die sie sich machten, von den dort postierten Sturmtruppen in Stücke geschossen. Keiner der Blechköpfe achtete auf mich, während ich immer weiter auf das Flussufer zuhinkte: Dort stand ihr Anführer, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sah aus, als wäre sein Korpus funkelnagelneu. Neben ihm stand Wa Belling, und ausnahmsweise wirkte er nicht gänzlich mit sich und der Welt zufrieden. Das war ein so ungewohnter Gesichtsausdruck bei meinem alten Kampfgefährten, dass es mich regelrecht erschreckte. Einen Herzschlag lang schien mich die ganze Welt wieder einzuholen, und ich erinnerte mich auch genau daran, wann ich mich das letzte Mal ähnlich gefühlt hatte: Das war Jahre her, in New York, bevor das alles angefangen hatte.
Ich betrachtete den Mönch, während ich mich ihm näherte. Mein Plan schien mir immer noch gut zu sein, und ich machte mir keine Sorgen, weil ich wusste, dass ich kaum eine andere Wahl hatte. Sämtliche Entscheidungen waren bereits für mich getroffen worden.
Als ich genau vor dem Mönch stand, blieb ich stehen, schenkte ihm ein schiefes Grinsen und neigte den Kopf zur Seite. Nach einem weiteren Herzschlag fiel jegliche Ruhe, die mich bislang schützend umhüllt hatte, in sich zusammen, wich Verbitterung und Furcht. Mein ganzer Leib erschauerte, als er sich plötzlich wieder an Schmerzen und Angst erinnerte. Dennoch lächelte ich weiter. Ich war Avery Gates. Ich lächelte immer, über alles und jeden. Selbst dann, wenn ich ein Gespenst sah.
»Hallo, Kev«, sagte ich, »du hast auch schon mal besser ausgesehen.«
XXVII
Tag neun:
das ist mein Job
Vor langer Zeit hatte mich Kev Gatz, mein alter, mittlerweile verstorbener Freund, einmal ›gepusht‹. Daher kannte ich dieses Gefühl. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn sein Verstand den meinen erdrückte. Er war jetzt besser darin als früher, ging subtiler vor und hatte alles besser im Griff. Aber jetzt, da er den ›Push‹ wieder von mir genommen hatte, erkannte ich das Gefühl sofort wieder. Gleichzeitig begriff ich, dass ich vorhin, im Inneren der Kirche, schon einmal unter Kevs Einfluss gestanden hatte. Ich starrte meinen alten Freund an. Meine sorgsam gehütete Coolness drohte einfach zu schmelzen, als er mich mit seinem Plastik-Mönchsgesicht höhnisch angrinste und die Lippen zu etwas verzog, was wohl ein Lächeln darstellen sollte.
Jahrelang waren Kev und ich gemeinsam durch New York gestreift. Er war schon immer ein wenig sonderbar gewesen, ein wenig seltsam, und das Einzige, was sein Überleben dort gesichert hatte, das war eben der ›Push‹ gewesen, diese Psioniker-Fähigkeit, die ihm angeboren war. Irgendwie war er unter dem Radar des SSD hindurchgeschlüpft und eben nicht wie jeder andere, der irgendeine Form besonderer geistiger Fähigkeiten zeigte, einfach verschwunden – die Kinder, die dann zu den Shockleys und Bendixes dieser Welt heranwuchsen. Ihm war es gelungen, zu einem gewöhnlichen Kleinkriminellen zu werden – zu einem von denen, die sich vom Unrat ernährten, den andere zurückließen. Ich hatte Kev Gatz mitgenommen, damals, als ich den Auftrag übernommen hatte, Squalor zu erledigen – oder besser: als mir Dick Marin diesen Job praktisch gegen meinen Willen in den Rachen gestopft hatte. Marin hatte mir keine große Wahl gelassen: Entweder könnte ich den Gründer der Cyber-Kirche umbringen oder würde selbst draufgehen. Damals also war Kev Gatz sozusagen mein ›Psi-Ass im Ärmel‹ gewesen. Nur seinetwegen war mein Plan aufgegangen – und ihn selbst hatte der ganze Scheiß das Leben gekostet.
Ich erinnerte mich genau daran, wie er dagesessen hatte, in sich zusammengesunken an die Mauer gelehnt. Ich erinnerte mich daran, selbst hinter einem kleinen Karren Deckung gesucht zu haben, als mein alter Kumpel gestorben war.
»Wie …?«, setzte ich an und bemerkte dann, dass es mir nicht gelang, eine halbwegs vernünftige Frage daraus zu machen.
»Danke, dass du uns gezeigt hast, wo sich Ty versteckt hält«, sagte er, während sich drei Mönche aus den Reihen seines Gefolges lösten und auf genau dem Weg, den ich gekommen war, zum Schweber hinübergingen. Dann bückten sie sich unter den Rumpf des Fahrzeugs. »Avery, weißt du, wie lange das menschliche Gehirn nach dem Tod des Körpers noch lebensfähig – und voll funktionstüchtig – bleibt?«
Ich schüttelte den Kopf, nur ein wenig – zu einer anstrengenderen Bewegung war ich im
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