Sommer
gestern mußt ich denken, ich wär die Libelle und man setzte mich wieder aufs Abgestreifte. Ach Prag: das Gefühl ist zu lang geworden, der Kopf geht nichtmehr hinein, von den Flügeln gar nicht zu reden.
Taxis I (21. 8. 1910), 24
Menschen bei Nacht
D ie Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.
Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,
das von ihren Gesichtern träuft,
und haben sie nachts sich zusammengesellt,
so schaust du eine wankende Welt
durcheinandergehäuft.
Auf ihren Stirnen hat gelber Schein
alle Gedanken verdrängt,
in ihren Blicken flackert der Wein,
an ihren Händen hängt
die schwere Gebärde, mit der sie sich
bei ihren Gesprächen verstehn;
und dabei sagen sie: Ich und Ich
und meinen: Irgendwen.
Werke I , 392
D aß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.
Werke VI (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), 710
D ie trägen, lässigen Sommertage gingen langsam dem Feste von Mariens Himmelfahrt entgegen. Eine schwere Traurigkeit lag über Wankas. Das Heimweh, welches die vier Menschen schon fast vergessen hatten, kam wieder in einer anderen, unerwarteten Gestalt über sie. Sie sehnten sich nicht mehr nach der Vergangenheit, sondern sie träumten in den heißen Stuben hinter dichtverhangenen Fenstern von dem leichten, luftigen Dorfsommer, dem die kühlen Wälder so nachbarlich sind. Von den hellen Feldwegen, über welche die jungen Obstbäumchen ihre rüh
rend dünnen Schatten legen, so daß man drüber hin wie auf einer Leiter geht, von Strich zu Strich. Von den schweren, reifen Feldern, die so breit und prächtig zu wogen beginnen gegen den Abend zu, und von den Hainen, in deren dunkelnder Stille die schweigsamen Teiche liegen, von denen niemand weiß, wie tief sie sind. Und dabei dachte jeder von den vier Menschen an irgend eine bestimmte unbedeutende Stunde, deren kleines Glück man einst, ohne es zu werten, eben so mitgenommen hatte. Und um so schmerzlicher war dieses Sehnen, als es nicht ein Unwiederbringliches betraf, als jeder fühlte, wie der heitere Heimatsommer ihn erwartete und traurig wurde, wenn keiner kam.
Werke IV (Die Geschwister), 186
Aus der Kinderzeit
S ommertage auf der ›Golka‹ …
Ich, ein Kind noch. – Leise her,
aus dem Gasthaus klingt die Polka,
und die Luft ist sonnenschwer.
Sonntag ists. – Es liest Helene
lieb mir vor. – Im Lichtgeglänz
ziehn die Wolken, wie die Schwäne
aus dem Märchen Andersens.
Schwarze Fichten stehn wie Wächter
bei der Wiesen buntem Schatz;
von der Straße dringt Gelächter
bis zu unserm Laubenplatz.
An die Mauer lockt uns beide
mancher laute Jubelschrei:
drunten geht im Feierkleide
Paar um Paar zum Tanz vorbei.
Bunt und selig, Bursch und Holka,
Glück und Sonne im Gesicht! –
Sommertage auf der ›Golka‹, –
und die Luft war voller Licht …
Werke I , 60f.
O b bei Dir auch solche Sommer-Tage sind? Hier ist immer derselbe Himmel über dem täglich dichteren Land. Alle Häuser sind fortgenommen und in tiefen klaren Schatten gestellt, unter die Kastanien, zu den Syringenbüschen. Und sieht man, vorübergehend, in ein Fenster hinein, so ist drin ein anderes Fenster mit lichtgrünem Rasen davor, kein Innenraum. Die Häuser werden immer kleiner und der Sommer wird immer mehr. Die hier wohnen freun sich daran; mir aber ist alles Sommerliche nur ein Vorgefühl und ein Gleichnis dessen, was kommen soll.
Andreas-Salomé (31. 5. 1905), 206f.
E s giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen.
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