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Sommer

Sommer

Titel: Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich dem Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen.
    Dieses Wesen ist der Nachbar.
    Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unzählige Nachbaren gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle vier Arten zugleich. Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren schreiben; das wäre ein Lebenswerk. Es wäre freilich mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben; aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, daß sie nur in den Störungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben hervorrufen.
    Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelmäßige. Ich habe gesessen und das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn es war klar, daß auch sie eines hatten. Und wenn die pünktlichen einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen könnte zugestoßen sein, und habe mein Licht brennen lassen und mich geängstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade haßten, und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich erlebte es, daß bei ihnen eines in das andere umsprang mitten in der Nacht, und dann war natürlich an Schlafen nicht zu denken. Da konnte man überhaupt beobachten, daß der Schlaf durchaus nicht so häufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die Geige, und ich bin sicher, daß er dabei hinübersah in die überwachen Häuser, die nicht aufhörten hell zu sein in den unwahrscheinlichen Augustnächten.
    Werke VI (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), 863f.
    M an muß sie gesehen haben, diese kleinen und ganz kleinen Städte in meiner Heimat. Sie haben einen Tag auswendig gelernt; den schreien sie immerfort wie große graue Papageien in die Sonne hinein. Nah an der Nacht aber werden sie namenlos nachdenklich. Man sieht es den Plätzen an, daß sie sich bemühen, die dunkle Frage zu lösen, die in der Luft liegt. Das ist rührend und ein wenig lächerlich für den Fremden. Denn er weiß ohneweiters: giebt es eine Antwort – irgendeine –, dann kommt sie bestimmt nicht von den kleinen und ganz kleinen Städten meiner Heimat her, – sie mögen sich noch so ehrlich anstrengen, die Armen.
    Werke V (Intérieurs), 399f.
    W er hat nicht an sich selbst die Leere der städtischen Sonntage empfunden, jener verschlossenen Sonntage, die lange leere Gassen haben und unzählige Stunden? Wer kennt nicht etwas von der Angst, die Ersparnisse der Woche auszugeben an dem einen langen Tag, sie in das große Loch zu werfen, das sich zwischen den Arbeitstagen auftut? Im kleinen leben es alle und erleben es immer wieder. Der Schulknabe, bei aller Liebe zu dem Sonntag, hat Augenblicke, wo er seine Leere fühlt, wo alle Spiele fertig sind, alle Bücher durchblättert, alle Wege durchlaufen und alle Blumen besehen und es ist noch immer Sonntag, noch viele Stunden. Und besonders kennen dieses Gefühl alle nach Tätigkeit verlangenden Menschen, die am Sonntag von ihrem Beruf abgeschnitten sind, verurteilt zum Nichtstun, zum Herumgehen, zum Warten.
    Werke V (Siegfried Trebitsch, Weltuntergang), 627f.
    K unst heißt, nicht wissen, daß die Welt schon ist , und eine machen. Nicht zerstören, was man vorfindet, sondern einfach nichts Fertiges finden. Lauter Möglichkeiten. Lauter Wünsche. Und plötzlich Erfüllung sein, Sommer sein, Sonne haben. Ohne daß man darüber spricht, unwillkürlich. Niemals vollenden. Niemals den siebenten Tag haben. Niemals sehen, daß alles gut ist.
    Werke IV (Im Gespräch), 229
    A ber ich sitze hier in meinem kleinen Haus, in dem sich vieler Tage Hitze sammelt, und gehe, tagaus tagein, schwer und mit Kopfschmerz umher und bin zu nichts zu gebrauchen; es ist ja eigentlich wieder kühleres erträglicheres Wetter, aber die drückenden Tage, die wir im April schon vorausbekommen haben, liegen mir noch in den Nerven und im Blute: ihre ganze Last ist noch in mir. Und der Sommer, der alles noch viel ärger macht, ist so drohend nah und ich weiß, dass er mich zwingen will, dieses liebe stille Gartenhaus (darin so vieles gut für mich war) zu verlassen; der neue Abbruch ist mir umso schwerer, als ich eigentlich hoffte, auch den grössten Theil des Sommers hier

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