Sommer am Meer
liebten, und sobald diese Liebesbezeugung vollzogen war, liefen sie die Stufen hinunter zu dem wartenden Taxi.
„Auf Wiedersehen“, sagte Virginia zu ihrer Schwiegermutter. Mehr gab es nicht zu sagen. Sie legten wieder die Wangen aneinander und küßten in die Luft. „Auf Wiedersehen, Nanny.“ Doch Nanny war schon wieder auf dem Weg nach oben ins Kinderzimmer; sie angelte nach ihrem Taschentuch und putzte sich die Nase. Nur ihre aufwärts stampfenden Beine waren zu sehen, und im nächsten Augenblick erreichte sie den Treppenabsatz, bog um die Ecke und verschwand.
Virginia hätte sich wegen des Benehmens ihrer Kinder keine Sorgen zu machen brauchen. Das neue Abenteuer der Bahnfahrt machte sie nicht aufgeregt, sondern stumm. Sie hatten noch nicht viele Ferienreisen gemacht und waren noch nie an der See gewesen, und wenn sie zu ihrer Großmutter nach London fuhren, waren sie, schon im Schlafanzug, in den Nachtzug verfrachtet worden und hatten die ganze Reise durchgeschlafen.
Jetzt sahen sie aus dem Fenster auf die rasende Landschaft, als hätten sie noch nie Felder, Bauernhöfe, Kühe oder Städte gesehen. Als der Reiz des Neuen nach einer Weile abflaute, wickelte Nicholas das Geschenk aus, das Virginia ihm am Paddington-Bahnhof gekauft hatte, und lächelte zufrieden, als er den kleinen roten Traktor sah.
Er sagte: „Der sieht aus wie der von Kirkton. Mr. McGregor hatte genauso einen Messey Fergusson.“ Er drehte die Räder, machte leise Traktorgeräusche und ließ das Spielzeug auf der Polsterung der Britischen Eisenbahnen hin und her rollen.
Aber Cara schlug ihr Comic-Heft nicht einmal auf. Es lag auf ihrem Schoß, und sie sah unverwandt aus dem Fenster, die gewölbte Stirn ans Glas gelehnt; die wachen Augen hinter ihrer Brille ließen sich nichts entgehen.
Um halb eins gingen sie Mittag essen. Das war wieder ein neues Abenteuer: den Gang entlang schlingern und geschwind durch die schaurigen Verbindungen zwischen den Waggons eilen. Der Speisewagen entzückte sie, die Tische und die kleinen Lämpchen, der geduldige Ober, der sie wie Erwachsene behandelte und ihnen eine Speisekarte reichte.
„Und was wünschen Madam?“ fragte der Ober, und Cara lief rot an und kicherte verlegen, als sie merkte, daß sie gemeint war, und man mußte ihr helfen, Tomatensuppe und Bratfisch zu bestellen und das weltbewegende Problem zu lösen, ob sie zum Nachtisch weißes oder rosa Eis essen sollte.
Als Virginia ihre Gesichter betrachtete, dachte sie: Weil es für sie neu und aufregend ist, ist es auch für mich neu und aufregend. Einfache, normale Vorgänge werden etwas Besonderes, weil ich sie mit Caras Augen sehe. Und wenn Nicholas mir Fragen stellt, die ich nicht beantworten kann, werde ich nachschlagen, und so werde ich mich informieren und bilden und eine glänzende Gesprächspartnerin sein.
Das war eine lustige Vorstellung. Sie lachte plötzlich, und Cara sah sie an, und dann lachte sie auch, ohne zu wissen, was so spaßig war, aber voller Freude, es mit ihrer Mutter zu teilen.
„Wann bist du zum erstenmal mit dem Zug nach Cornwall gefahren?“ fragte Cara.
„Als ich siebzehn war. Vor zehn Jahren.“
„Nicht als du ein kleines Mädchen warst wie ich?“
„Nein. Da bin ich immer zu einer Tante nach Sussex gefahren.“
Inzwischen war es Nachmittag, und sie hatten das Abteil für sich allein. Nicholas, für den der Gang ein regelrechtes Abenteuer war, hatte beschlossen, dort draußen zu bleiben, und sie konnte ihn sehen, wie er breitbeinig dastand und sich bemühte, sein Leichtgewicht mit dem Schlingern des Zuges in Einklang zu bringen.
„Erzähl.“
„Was? Von Sussex?“
„Nein. Wie du nach Cornwall gekommen bist.“
„Wir sind einfach hingefahren, meine Mutter und ich, und haben bei Alice und Tom Lingard gewohnt. Ich war gerade mit der Schule fertig, und Alice hatte uns geschrieben und uns eingeladen, und meine Mutter meinte, es wäre schön, Ferien zu machen.“
„War es in den Sommerferien?“
„Nein, es war Ostern. Im Frühling. Die Narzissen haben geblüht, und die Böschungen am Bahndamm waren voll mit Schlüsselblumen.“
„War es heiß?“
„Nicht richtig. Aber sonnig, und viel wärmer als in Schottland. In Schottland haben wir nie einen richtigen Frühling, nicht? An einem Tag ist noch Winter, und am nächsten Tag haben alle Bäume schon Blätter, und es ist Sommer. So ist es mir jedenfalls immer vorgekommen. In Cornwall dauert der Frühling lange... deswegen können dort die vielen
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