Sommer am Meer
Frühstück in ihrem Schlafzimmer ein. Aber da dies ein perfekt organisierter Haushalt war, stand auf dem Rechaud im Eßzimmer Kaffee für Virginia bereit, und am Kopfende des polierten Tisches war ein einzelnes Gedeck aufgelegt.
Sie trank zwei Tassen glühendheißen Kaffee und aß Toast mit Orangenmarmelade. Dann nahm sie den Schlüssel vom Dielentisch, schloß die Haustür auf und ging durch die morgendlich stillen Straßen zu dem kleinen altmodischen Lebensmittelgeschäft, wo Lady Keile Stammkundin war. Sie kaufte genügend Vorräte, um für den Anfang versorgt zu sein, wenn sie in Bosithick ankamen. Brot und Butter, Speck und Eier, Kaffee und Kakao, weiße Bohnen in Tomatensoße (die Nicholas so liebte, ihm aber von Nanny vorenthalten wurden), Tomatensuppe und Schokoladenplätzchen. Milch und Gemüse würde sie dort erstehen müssen, Fleisch und Fisch hatten bis später Zeit. Sie bezahlte, der Kaufmann packte ihr alles in einen stabilen Pappkarton, und ihre schwere Last auf beiden Armen vor sich hertragend, ging sie nach Melton Gardens zurück.
Sie traf die Kinder und Lady Keile unten an. Von Nanny war nichts zu sehen, aber die kleinen Koffer, zweifellos akkurat gepackt, standen nebeneinander in der Diele. Virginia stellte den Lebensmittelkarton mit einem Plumps daneben ab.
„Hallo, Mami!“
„Hallo.“ Sie gab beiden einen Kuß. Sie waren sauber und adrett, reisefertig, Cara in einem blauen Baumwollkleid, Nicholas in Shorts und einem gestreiften Hemd, die dunklen Haare glatt gebürstet. „Wo warst du?“ wollte er wissen.
„Lebensmittel kaufen. Wir werden vermutlich keine Zeit zum Einkaufen haben, wenn wir in Penzance ankommen; es wäre schlimm, wenn wir nichts zu essen hätten.“
„Ich hab nichts gewußt, bis Cara es mir heute Morgen gesagt hat. Wie ich aufgewacht bin, hab ich nicht gewußt, daß wir Eisenbahn fahren.“
„Entschuldige. Du hast gestern abend schon geschlafen, als ich kam, um es euch zu sagen, und ich wollte dich nicht wecken.“
„Ich wünschte, du hättest mich aufgeweckt. Ich hab nichts gewußt, bis zum Frühstück.“ Er war sehr aufgebracht.
Virginia lächelte ihm zu, dann sah sie ihre Schwiegermutter an. Lady Keile war abgespannt und blaß. Ansonsten sah sie aus wie immer, perfekt gepflegt, vollkommen Herr der Situation. Virginia fragte sich, ob sie überhaupt geschlafen hatte.
„Du solltest nach einem Taxi telefonieren“, sagte Lady Keile. „Sonst verpaßt ihr am Ende noch den Zug. Am besten erledigt man immer alles frühzeitig. Die Nummer ist neben dem Telefon.“
Virginia wünschte, das wäre ihr selber eingefallen, und tat wie geheißen. Die Uhr in der Diele schlug Viertel nach neun. Binnen zehn Minuten war das Taxi da, und sie waren zum Aufbruch bereit.
„Aber wir müssen Nanny auf Wiedersehen sagen“, sagte Cara.
Virginia sagte: „Ja, natürlich. Wo ist Nanny?“
„Im Kinderzimmer.“ Cara wollte zur Treppe, aber Virginia sagte: „Nein.“
Cara drehte sich um und machte große Augen vor Schreck über diesen ungewohnten Ton ihrer Mutter.
„Aber wir müssen ihr auf Wiedersehen sagen.“
„Natürlich. Nanny wird herunterkommen und sich von euch verabschieden. Ich gehe jetzt nach oben und sage ihr, daß wir gleich losfahren. Seht ihr zu, daß ihr alles beisammen habt.“
Sie fand Nanny emsig mit einer vollkommen überflüssigen Arbeit beschäftigt.
„Nanny, wir fahren jetzt.“
„Ach ja.“
„Die Kinder möchten Ihnen auf Wiedersehen sagen.“
Schweigen.
Gestern abend hatte Virginia Mitleid mit ihr gehabt und sie auf seltsame Weise respektiert. Doch jetzt hätte sie Nanny am liebsten an den Schultern gepackt und sie geschüttelt, bis ihr sturer Kopf herunterfiel. „Nanny, das ist doch lächerlich. So können Sie es nicht enden lassen. Kommen Sie herunter und sagen Sie ihnen auf Wiedersehen.“
Es war der erste direkte Befehl, den sie Nanny je erteilt hatte. Der erste, dachte sie, und der letzte. Wie Cara war auch Nanny sichtlich erschüttert. Sie zögerte einen Moment, ihr Mund bewegte sich, sie strengte sich offensichtlich an, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Virginia sah ihr fest in die Augen. Nanny versuchte, sie so lange anzustarren, bis sie wegsah, wurde aber besiegt, und sie wandte die Augen ab. Das war Virginias endgültiger Triumph.
„Sehr wohl, Madam“, sagte Nanny und folgte Virginia hinunter in die Diele. Die Kinder liefen freudig zu ihr, umarmten und küßten sie, als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, den sie
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