Sommer am Meer
Kinderzimmer.“
Sie markierte die Seite in ihrem Buch sorgsam mit einem Lesezeichen, das sie selbst in Kreuzstich gestickt hatte, klappte das Buch zu und legte es auf ihr Nachtkästchen.
„Hast du eben mit Nanny gesprochen?“
„Ja.“
„Sie war den ganzen Tag so komisch.“
„So?“
„Weißt du, was sie hat? Ist es was Schlimmes?“
Eine Achtjährige hatte es schwer, wenn sie so aufmerksam war, so empfänglich für Stimmungen. Zumal wenn sie schüchtern und nicht besonders hübsch war und eine runde Nickelbrille tragen mußte, die sie wie eine Eule aussehen ließ.
„Nein, nicht richtig schlimm. Es wird sich nur etwas ändern.“
„Und was?“
„Ich fahre morgen mit dem Zug zurück nach, Cornwall und nehme dich und Nicholas mit. Magst du?“
„Du meinst...“ Caras Gesicht leuchtete auf. „Wohnen wir bei Tante Alice?“
„Nein, wir haben ein Haus für uns allein, ein lustiges kleines Häuschen namens Bosithick. Und wir müssen die ganze Hausarbeit allein machen und selber kochen...“
„Kommt Nanny nicht mit?“
„Nein. Nanny bleibt hier.“
,Langes Schweigen.
Virginia fragte: „Macht es dir etwas aus?“
„Nein, gar nicht. Aber ihr bestimmt. Deswegen war sie so komisch.“
„Es ist nicht leicht für Nanny. Ihr seid von Geburt an ihre Babies gewesen. Aber ich finde, ihr seid Nanny allmählich entwachsen, genau wie ihr aus den Kleidern herauswachst...
Ihr seid beide groß genug, um selbständig zu werden.“
„Wohnt Nanny dann nicht mehr bei uns?“
„Nein.“
„Wo denn?“
„Vielleicht findet sie wieder ein kleines Baby, für das sie sorgen kann. Oder sie bleibt hier bei Großmama.“
„Sie ist gerne in London“, sagte Cara. „Das hat sie mir gesagt. Viel lieber als in Schottland.“
„Na siehst du!“
Cara dachte einen Augenblick darüber nach, dann sagte sie: „Wann fahren wir nach Cornwall?“
„Hab ich dir doch schon gesagt. Morgen, mit dem Zug.“
„Um wieviel Uhr?“ Sie wollte immer alles ganz genau wissen.
„Um halb zehn. Wir fahren mit dem Taxi zum Bahnhof.“
„Und wann fahren wir wieder nach Kirkton?“
„Wenn die Ferien um sind, nehme ich an. Wenn ihr wieder zur Schule müßt.“ Cara schwieg. Es war unmöglich zu sagen, was sie dachte. Virginia sagte: „Jetzt mußt du aber schlafen, es wird Zeit... wir haben morgen einen langen Tag vor uns“, und sie nahm Cara sachte die Brille ab und gab ihr einen Gutenachtkuß.
Doch als sie zur Tür ging, sagte Cara: „Mami?“
Virginia drehte sich um. „Ja?“
„Du bist gekommen.“
Virginia runzelte verständnislos die Stirn.
„Du bist gekommen“, sagte Cara wieder. „Ich wollte, daß du mir schreibst, aber du bist lieber hergekommen.“
Virginia dachte an Caras Brief, der alles ins Rollen gebracht hatte. Sie lächelte. „Ja“, sagte sie, „ich bin gekommen. Ich fand es besser so.“ Und sie ging aus dem Zimmer und nach unten, um die Qual eines schweigsamen Abendessens in Lady Keiles Gesellschaft über sich ergehen zu lassen.
5
V irginia erwachte mit dem ungewohnten Gefühl, etwas vollbracht zu haben. Sie fühlte sich entschlossen und stark, was so neu für sie war, daß es sich lohnte, noch ein Weilchen still liegen zu bleiben, um dieses Gefühl auszukosten. In Lady Keiles superbequemem Gästebett, in hohlsaumbesticktes Leinen und federleichte Decken gehüllt, sah sie den Sonnenschein an diesem neuen herrlichen Sommermorgen in langen goldenen Strahlen durch die Blätter der Kastanie dringen. Das Schlimmste war vorüber, die gefürchteten Hürden waren genommen, und in ein paar Stunden würde sie mit den Kindern im Zug sein. Sie sagte sich, daß sie sich seit dem gestrigen Abend nie wieder scheuen würde, etwas anzupacken; keine Schwierigkeit sei unüberwindlich, kein Problem zu verzwickt. Sie ließ ihre Phantasie vorsichtig zu den bevorstehenden Wochen schweifen, zu den Widrigkeiten, wenn sie allein mit Cara und Nicholas fertig werden mußte, zu den Unannehmlichkeiten und Unzulänglichkeiten des kleinen Hauses, das sie so kurzentschlossen gemietet hatte, und trotzdem blieb ihre gute Laune ungetrübt. Sie hatte das Schlimmste hinter sich. Von nun an würde alles anders.
Es war halb acht. Sie stand auf, freute sich über das schöne Wetter, das Vogelgezwitscher, das angenehm ferne Summen des Verkehrs. Sie wusch sich, zog sich an, packte ihre Sachen, zog ihr Bett ab und ging nach unten.
Nanny und die Kinder frühstückten im Kinderzimmer, und Lady Keile nahm ihr
Weitere Kostenlose Bücher