Sommer der Entscheidung
sie zuvor nur ein wenig gespürt hatte, nahm jetzt ihr ganzes Herz ein. Hierherzukommen, wieder hier zu leben, hatte den riesigen Unterschied zwischen ihnen nur noch deutlicher hervortreten lassen.
Aber war es nicht auch absurd? Zählten die ganzen Jahre,die sie sich angestrengt hatte, um ihm zu gefallen, gar nichts? Bedeuteten all die Liebe und die Zuwendung, mit denen sie ihn und ihre Tochter überhäuft hatte, gar nichts?
„Ich habe von den Häusern gesprochen“, sagte sie. „Du scheinst über etwas Wichtigeres zu sprechen, über unser gemeinsames Leben.“
„Achte nicht darauf“, sagte er endlich. „Ich bin müde. Ich musste früh aufstehen, um herzufahren, und ich glaube, das spüre ich jetzt.“
„Du hättest nicht so früh kommen müssen. Ich hatte nicht so früh mit dir …“
„Ich möchte mit Tessa raus in die Hügel gehen, bevor es zu heiß wird.“
Er war also gekommen, um ihre Tochter zu sehen, nicht, um sie zu treffen. Und nun wollte er sich nicht mit diesem geschmacklosen Gespräch abplagen. Vorwände waren die Regeln, nach denen Billy lebte, die Regeln, die Nancy mit großem Enthusiasmus übernommen hatte.
Einen Moment lang glaubte Nancy, sie müsste weinen. Aber sie konnte nicht. Nicht vor Billy. Sie wollte nicht, dass er sah, wie verletzlich, wie unelegant sie in Wirklichkeit war.
„Na, dann geh los“, sagte sie und drehte sich um. „Die Vögel werden jetzt auch langsam aktiv.“
„Wir sehen uns später.“ Auf dem Weg nach draußen hielt er an und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Vielleicht können wir zu Mittag essen gehen.“
Sie fühlte sich wie ein Jagdhund, der auf einer langen Jagd keine Fährte aufgenommen hatte. Vielleicht würde es einen Trostknochen in der Hundehütte geben, aber sicherlich keine weiteren Ausflüge in den Wald.
Sie war selten auf ihren Mann ärgerlich, aber plötzlich war ihr Ärger sehr groß. Das wütende Gewicht ihrer Enttäuschung ließ keinen Raum für andere Gefühle. Es fiel ihrschwer zu atmen. Sie entzog sich seiner Berührung, noch bevor sie ein zweites Mal darüber nachdenken konnte.
„Weißt du, ich glaube, ich habe keine Zeit, um essen zu gehen“, sagte sie und machte eine Pause, um tief einzuatmen, bevor sie weitersprach. „Ich habe Mama versprochen, einige ihrer alten Magazine zu einem Altersheim in Strasburg zu bringen, und sie erwarten mich dort. Aber es war nett, dass du gefragt hast.“
Dann ging sie einen Schritt vor ihm aus der Küche und hinauf in das Obergeschoss, um allein in ihrem Zimmer zu weinen.
Am Nachmittag hatte sich der Himmel verdunkelt, und es war kühler geworden, so als würde es Regen geben. Tessa war angenehm müde, als sie mit ihrem Vater vom Spaziergang in den Hügeln zurückkam. Sie hatten einen weißbrüstigen Kleiber und den selteneren braunen Baumläufer gesehen. Der Haubenteichrohrsänger, den sie letztes Jahr gleich hinter der Hügelkette beobachtet hatten, war ihnen entwischt, oder hatte sich, was wahrscheinlicher war, ein neues Zuhause in einer Gegend gesucht, in der das Klima feuchter war.
Billy hatte Tessa schon zum Vögelbeobachten mitgenommen, als sie noch Windeln anhatte. Zuerst trug er sie noch in einem Gestell auf dem Rücken, dann durfte sie schon alleine laufen und schließlich ihr eigenes Fernglas und ihre Feldflasche tragen. Wie Billy führte sie eine Liste, in der sie alle Vögel eintrug, die sie in ihrem Leben bereits gesehen hatte. Allerdings war ihre noch nicht einmal halb so lang wie die ihres Vaters, und sie hatte auch nicht die detaillierten Anmerkungen. Billys Liste war so lang, dass er bald Mitglied des „Sechshunderter-Clubs“ sein würde. Er hatte bereits weit über fünfhundert verschiedene Vögel gesichtet. Während Tessa schon damit zufrieden war, einfach nur Vögel in ihrerunmittelbaren Umgebung zu beobachten, träumte Billy von einem Trip in eine abgelegene Region im Amazonasgebiet, nur mit wenig mehr als Fernglas und Notizbuch ausgerüstet. Wen wunderte es, dass dies nicht Nancys Art von Urlaub war?
Billy war schon nach Richmond zurückgefahren, ohne sich von seiner Frau zu verabschieden. Am Nachmittag kehrte Nancy von ihren Erledigungen in der Stadt zurück, als sei nichts geschehen. Sie hatte neue Vorhänge für die Fenster im Wohnzimmer gekauft.
Als Helen die Gardinen sah, rümpfte sie die Nase. „Die alten waren noch gut“, sagte sie, bevor sie hoch in ihr Zimmer ging, um sich über diese erneute Überschreitung ihrer Grenzen zu ärgern. Zu Beginn der
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