Sommer der Entscheidung
dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, und sie hatte sich noch immer nicht an die Hitze – und an viele andere Dinge – gewöhnen können. Aber immerhin hatten sie und Tessa es in der kurzen Zeit geschafft, das Haus ein ordentliches Stück aufzuräumen.
Sie nahm den Föhn in die andere Hand, dabei rutschte der Stecker aus der Steckdose. Leise fluchend steckte sie ihn wieder ein.
„Mom, ich bin wieder da. Keine Sorge, lass dir ruhig Zeit.“ Tessas Stimme klang von draußen herein und wurde dann leiser, als wäre sie auf dem Weg zur Küche. Als Nancy kurze Zeit zuvor aus ihrem Fenster gesehen hatte, konnte sie Tessa als kleinen Fleck erkennen, der auf der Fitch Crossing entlanglief.
Nancy schaltete den Föhn wieder ein, aber sie konnte in dem winzigen Badezimmer ihrer Mutter nicht wirklich viel aus ihren Haaren machen. Dasselbe Problem hatte sie schon als Mädchen gehabt. In jenen Tagen war die größte Hürde gewesen, Helen zu ignorieren, die gegen die Tür donnerte und etwas über den Fluch der Eitelkeit schimpfte. Jetzt war die Wasserknappheit das Problem, die geringe Anzahl der Steckdosen und die müden Arme, die die Rundbürste oder den Lockenstab nicht mehr so lange halten wollten, wie es nötig war, um jede einzelne Strähne dorthin zu bugsieren, wo sie hingehörte.
Heute Morgen war das Ritual wahrscheinlich der Mühewert. Sie versuchte, sich für Billy fertig zu machen, und sie war überraschend nervös. Sie hatte ihren Mann seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen. In der ersten Woche war er in Atlanta auf einem Kongress, in der zweiten war er einfach … beschäftigt. Jedenfalls war es das, was er ihr gesagt hatte.
Zufrieden, dass ihr Haar trocken genug war, zog sie den Föhn aus der Steckdose und widmete sich nun dem Lockenstab. Während sie darauf wartete, dass er sich aufheizte, beugte sie sich vor und blickte in den Spiegel. Sie war überhaupt nicht glücklich mit dem, was sie dort sah.
Nancy sah müde aus. Das war auch kein Wunder. Seit ihrer Jugend hatte sie nicht mehr so viel körperlich gearbeitet. Seitdem sie in Toms Brook angekommen war, war sie nicht mehr bei der Maniküre gewesen. Und bevor sie heute Morgen für zwei Minuten in die Dusche gegangen war, hatte sie die zersplitterten Nägel, von denen der Lack schon abgeblättert war, kurz geschnitten. Die Haut auf ihrer Nase pellte sich, weil sie zu lange mit Tessa in der Sonne gearbeitet hatte, um den Zaun vom Gemüsegarten zu reparieren. Die Haut ihrer Hände sah aus wie eine Mondoberfläche. Ihre Knie und Ellenbogen waren so rau wie eine Katzenzunge.
Billy kam zu Besuch und würde feststellen, dass seine Frau um zehn Jahre gealtert war. Panik überfiel sie. Sie war sich ziemlich sicher, dass Billy aus drei Gründen über all diese Jahre mit ihr zusammengeblieben war: erstens, ihr bewundernswertes Sexleben. Zweitens, Tessa, die er anbetete. Und schließlich Nancys Talent, ihn und seine Familie zu repräsentieren. In all ihren Ehejahren hatte sie ihren Mann nie beschämt. Sie wusste sich vernünftig zu kleiden und das Richtige zur richtigen Person zur richtigen Zeit zu sagen.
Was sollte Billy von ihr denken, wenn er sie nun in diesem Haus und in diesem Zustand sah? All diese Jahre, all dieschwierigen, panischen Jahre über, hatte sie nie vergessen, dass sie, obwohl sie wie eine Miniaturausgabe einer smarten, raffinierten Südstaaten-Dame aussah, eigentlich doch im Inneren ihres Herzens noch das barfüßige Bauernmädel war, das keine Manieren, raue Hände und Dreck unter den Fingernägeln hatte.
„Mom?“
Es hörte sich an, als stehe Tessa wieder direkt vor der Tür. Nancy wickelte das Ende einer Strähne um den Lockenstab, als hinge ihr Leben davon ab. „Was ist?“, rief sie.
„Daddy ist hier.“
So früh? Billy war zu früh? Für einen Moment erlaubte Nancy sich zu hoffen, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte und vor lauter Sehnsucht nach ihr schon vor dem Morgengrauen aufgebrochen war.
„Wir gehen gleich Vögel beobachten“, rief Tessa durch die geschlossene Tür. „Willst du ihn noch begrüßen, bevor wir aufbrechen?“
Nancy schloss für einen Moment die Augen. „Ich bin gleich fertig.“
„Ich mach ihm solange einen Kaffee.“
Nancy befreite die Strähne aus der Zange und machte einen halbherzigen Versuch auf der anderen Seite ihres Kopfes. Dann zerrte sie das Kabel aus der Wand und legte den Lockenstab auf den Toilettendeckel, um ihn abkühlen zu lassen. Sie hatte gehofft, noch eine zweite Schicht Mascara
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