Sommer der Entscheidung
Farmer sein. Er möchte ein Lauter werden.“
„Entschuldigung, ein was? Lauter, was bedeutet das?“ „Er ist eigentlich Musiker, er spielt Bluegrass und volkstümliche Musik aus den Bergen. Er kann fast alles spielen: Gitarre, Geige, Mandoline. Aber er möchte Instrumentenbauer werden oder sie reparieren. Er nimmt bei einem alten Mann drüben in West Virginia Unterricht, um Instrumente zu reparieren.“
„Dazu muss man bestimmt Talent haben.“
„Ja, genau. Sehen Sie, auch wenn die Dinge sich ändern, kann man sich anpassen und den eigenen Platz finden und glücklich sein. Ich habe in der Enzyklopädie Mr. Hardy nachgeschlagen. Dort stand, dass er der Sohn von einem Zimmermann war. Aber er ist Schriftsteller geworden, nicht wahr? Er musste nicht den Beruf erlernen, den sein Vater hatte. Warum also glaubt er, dass Menschen sich nicht entwickeln können und ihrem Schicksal ausgeliefert sind?“
Tessa hatte dem Mädchen einfach ein Buch ausgeliehen. Sie hätte nie damit gerechnet, dass Cissy es so gründlich analysieren würde. Oder dass die Geschichte sie anregte, sich Gedanken über ihr eigenes Leben zu machen.
„Und noch etwas“, fuhr Cissy fort, bevor Tessa antworten konnte. „Ich glaube nicht daran, dass Gott Mädchen für etwas bestraft, das Männer ihnen antun.“ Sie setzte sich auf. „Ich glaube nicht an einen solchen Gott, auch wenn Hardy es tat. Gott ist gut, auch wenn Menschen es nicht sind. Gott will nicht, dass etwas Schlechtes passiert. Niemand wird mir das weismachen können! Ich war schon froh, dass ich nicht dieTess aus der Geschichte bin. Aber ich glaube, ich bin noch glücklicher darüber, dass ich nicht Thomas Hardy bin.“
Das Mädchen hatte bis jetzt kein einfaches Leben gehabt. Das Wenige, was sie bisher gesagt hatte, bestätigte das. Nun war sie mit einem unehelichen Kind schwanger, arm und nicht in der Lage, die Ausbildung zu bekommen, die sie offensichtlich verdiente. Und dennoch – unter Gottes Sonne gehörte sie zu den Gewinnern im Leben. Wenn Thomas Hardy und Cissy Mowrey in einem Raum gegeneinander angetreten wären, hätte sich Tessa gezwungen gesehen, auf Cissys Sieg zu setzen.
Es war Tessa klar, dass ihre schulmeisterliche Bemerkung nicht das war, was Cissy weiterhalf, aber sie konnte sich nicht bremsen. „Ich glaube nicht, dass er so starrköpfig war, wie du sagst. Ich glaube, Hardy wollte zeigen, dass Tess rein war, vor und nach der Geburt ihres Babys. Vielleicht war ihr Schicksal vorbestimmt, aber sie irrte sich nicht. In dieser Beziehung unterscheidet sich das Buch von vielen Romanen, die in derselben Zeit geschrieben worden sind.“
„Das stimmt vielleicht, aber das Baby stirbt trotzdem, oder? Und Tess stirbt auch.“ Cissy sah besorgt aus. „Sie haben sie ermordet.“
Tessa konnte nicht anders, als zu sehen, wie persönlich dieses Gespräch nun geworden war. Sie lehnte sich vor und berührte Cissys Hand. „Es wird alles gut werden, Cissy. Deinem Baby wird nichts passieren.“
Cissy schluckte und nickte.
„Ich glaube, du bist eine sehr intelligente junge Frau. Warum schreibst du deine Gedanken nicht auf? Das Schreiben hilft dir, sie zu ordnen. Es gibt viele wichtige Dinge, die du zu sagen hast.“ Tessa lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück.
„Oh nein, Ma’am. Im Schreiben bin ich nicht so gut. Ichmeine, ich habe es nie richtig gelernt. Meine Familie ist so oft umgezogen, und ich war nicht so viel in der Schule, wie hätte ich hingehen sollen. Also hab ich nicht wirklich …“
„Warum versuchen wir es nicht zusammen? Ich könnte dir helfen.“ Tessa war sich nicht sicher, wer mehr überrascht von ihrem Angebot war, sie oder Cissy.
„Sie wollen mir helfen zu schreiben?“
Es war zu spät, um ihre Entscheidung zu revidieren. Tessa brachte gerade ein Nicken zu Stande. „Wenn du willst.“
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
„Warum schreibst du nicht einfach erst einmal auf, was du über das Buch gedacht hast? Liste doch deine Gedanken auf, und bringe sie in eine Reihenfolge. Anschließend reden wir dann darüber.“
Cissys Mimik verdunkelte sich, sie runzelte die Stirn. „Es wäre mir unangenehm.“
„Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Ich bin Lehrerin. Du würdest nicht glauben, was für Fehler ich schon in meinem Leben gesehen habe.“ Tessa hielt inne. „Oder welche Fortschritte. Und, Cissy, wenn du jemals eine Arbeit finden musst, nachdem das Baby da ist, dann musst du gut schreiben können. Du kannst schon sehr
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