Sommer der Entscheidung
Das Urteil wird vollstreckt. Avery hat versprochen, mit dem Bewährungshelfer von Owens zu sprechen und sicherzustellen, dass Owens begreift, wenn er nur einen einzigen Fehler macht, ist er zurück in seiner Zelle und sitzt die vollen vier Jahre ab. Der Bewährungshelfer ist da, um ihn zu kontrollieren. Das ist mehr, als Lutz eigentlich zu tun brauchte. Viel mehr.“
„Was wäre, wenn es wirklich etwas gäbe, was wir tun könnten?“ Tessa wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Was, wenn wir gar nicht so hilflos sind?“
Er runzelte die Stirn. „Bitte sag mir, dass du nicht an Selbstjustiz denkst.“
„Ich habe schon einmal daran gedacht.“ Sie sah, wie sich seine Augenbrauen stärker zusammenzogen. „Du nicht?“
„Ganz früher schon. Ich wollte ihn mit meinen eigenen Händen erwürgen. Aber das ist nur normal. Ich habe gehört, dass es anderen Eltern, die ihr Kind so oder auf schlimmere Weise verloren haben, genauso geht.“
„Aber du bist darüber hinweg?“
„Ja, ich bin über die Idee hinweg, ihn zu erwürgen. Aber ich habe ihm nicht verziehen.“
„Willst du ihm verzeihen?“
„Ich will einfach nur in Ruhe leben.“ Er hielt inne. „Was meintest du damit, etwas zu unternehmen?“
„Ich weiß es selbst noch nicht. Ich rede nicht davon, etwas zu unternehmen, das gegen das Gesetz verstößt.“
Mack schien sich ein wenig zu entspannen. „Es wäre gesünder, gar nichts zu tun.“
„Wie kannst du es so einfach hinter dir lassen? Hast du es so eilig, dein Leben fortzusetzen, dass du vergisst, was bisher geschehen ist?“
„Wir können sie nicht zurückholen, Tessa, egal, was wir anstellen. Sich an all den schlimmen Erinnerungen festzuhalten bringt uns nicht weiter. Du hast auch die ganzen guten Erinnerungen getilgt und hältst dennoch weiter an den schlechten fest – sie werden dich kaputtmachen. Du musst sie loslassen, um den guten Dingen wieder einen Platz in deinem Leben zu geben, du musst Raum für eine Zukunft schaffen. Wir haben eine Zukunft verdient. Glaubst du, Kayley wollte, dass wir unglücklich sind?“
„Ich nehme an, dass Kayley nie darüber nachgedacht hat. Sie war fünf. Tod war für sie nur ein Wort, bis ein Säufer das Gas mit der Bremse und den Bürgersteig mit der Straße verwechselte.“
Mack lehnte sich zu Tessa herüber. „Sie hat uns geliebt, so, wie nur ein Kind in ihrem Alter seine Eltern lieben kann. Es hat ihr Freude gemacht, wenn wir glücklich waren. Sie ist nun weiter zu etwas Neuem gegangen. Ich weiß nicht, wie es dort ist. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich wünschte, ich hätte einen Glauben, in dem es so sicher und einfach ist, dass sie nach ihrem Tod in den Himmel gekommen ist, von wo aus sie uns jetzt zusieht. Aber falls das wirklich der Fall seinsollte, was möchtest du, dass sie dann sieht? Du würdest ihr das Herz brechen, Tessa. Du brichst meines.“
Sie konnte ihn nicht länger ansehen. Das war die Art Gespräch, die er immer gesucht hatte – ein Gespräch, das ihren Magen in Aufruhr versetzte. Er wollte über Gefühle und darüber sprechen, dass das Leben weitergeht. Sie wollte darüber sprechen, wie sie Gerechtigkeit erlangen könnten.
Und wenn sie nicht miteinander kommunizieren konnten, welchen Sinn hatte dann ihre Ehe noch? Warum hatten sie nicht schon längst ihre Beziehung beendet? Außerdem wartete die Frau, die sie ersetzen würde, schon längst in den Startblöcken. Warum gab er sich noch solche Mühe?
Warum gab sie sich noch diese Mühe?
„Tu nichts Unüberlegtes“, sagte Mack. „Du handelst nicht rational in dieser Sache, und du weißt das.“
„Reden wir über Robert Owens oder über unsere Ehe?“
„Lass uns die beiden Dinge nicht vermischen.“
Sie sah ihn ein letztes Mal an. „Aber sie gehören zusammen. Sie sind so miteinander verwoben, dass ich nicht weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Robert Owens hat unsere Tochter getötet, und nun zerstört er unsere Ehe.“
„Nein, das machen wir selbst.“ Er legte seine Hand auf ihre, bevor sie sie blitzartig fortzog.
„Danke, dass du mich heute Morgen mitgenommen hast“, sagte Tessa steif und tastete nach dem Türgriff.
„Geh doch bitte noch nicht. Bleib bei mir. Ich habe heute nicht so viel zu tun, und die restlichen Termine sage ich ab.“
Sie zögerte. Was würden sie tun? Würden sie sich lieben? Würden sie noch länger über Dinge reden, über die man nicht hätte diskutieren sollen? Sollten sie gemeinsam etwas unternehmen, wie zwei normale
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