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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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irgendwie gestört haben oder so was. Aber es war ein seltsamer Laut... ich schwöre dir ... als ich in jener Nacht mit dem Alten zur Stadt rausgefahren bin, die kalte Luft und den Schnee und die Whiskyfahne des Alten gerochen und die Hufe der Pferde auf dem Eis und dem gefrorenen Boden gehört habe und Elm Haven nur aus dunklen Bäumen und kaltem Schornsteinrauch bestand, der hinter uns im Mondenschein schimmerte... da hat sich die verdammte Glocke immer noch den Arsch abgeläutet.
    Sag mal, hast du nicht noch eine Flasche von dem guten Champagner, Junge? Die hier ist bis aufn letzten Tropfen geköpft.«
    »Du siehst also«, sagte Mr. Dennis Ashley-Montague, »deine sogenannte Legende der Borgia-Glocke ist ebenso eine Fälschung wie die sogenannten Echtheitszertifikate, die meinen Großvater überhaupt erst dazu gebracht haben, sie zu kaufen. Es gibt keine Legende ... nur eine alte, schlecht gegossene Glocke, die einem gutgläubigen Reisenden aus Illinois verkauft wurde.«
    »Nn-nnn«, sagte Dale. Mr. Ashley-Montague redete seit ein paar Minuten, das Sonnenlicht des facettengerahmten Fensters hinter ihm fiel hell leuchtend über den schweren, massiven Eichenschreibtisch und schuf eine Korona aus Licht um Mr. Ashley-Montagues schütteres Haar. »Ich glaube Ihnen das nicht«, sagte Dale.
    Der Millionär runzelte die Stirn und verschränkte die Arme; er war offenbar nicht daran gewöhnt, von einem Elfjährigen ein Lügner genannt zu werden. Er zog eine weiße Braue hoch. »So? Und was glaubst du dann, junger Mann? Daß diese Glocke alle möglichen übernatürlichen Ereignisse auslöst? Bist du dafür nicht schon ein bißchen zu alt?«
    Dale ging nicht auf die Frage ein. Er dachte an Harlen draußen im Chevy, der einen unberechenbaren Congden daran hinderte, einfach loszufahren, und wußte, er hatte nicht mehr viel Zeit. »Haben Sie nicht Duane McBride gesagt, daß die Glocke eingeschmolzen worden ist?«
    Mr. Ashley-Montague runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht an die Unterhaltung erinnern.« Aber Dale fand, daß sich seine Stimme hohl anhörte, als wüßte er, daß es Zeugen gegeben haben könnte. »Na ja, es kann sein, daß er mich gefragt hat. Die Glocke wurde eingeschmolzen, sie wurde im Großen Krieg wie viele andere zu Kanonen verarbeitet.«
    »Was ist mit dem Neger?« beharrte Dale.
    Der hagere Mann lächelte verhalten. Dale kannte das Wort >he-rablassend< und fand, daß es durchaus für dieses Lächeln zutraf. »Was für ein Neger, junger Mann?«
    »Der Neger, der in Old Central aufgehängt worden ist«, sagte Dale. »Der an der Glocke aufgehängt worden ist.«
    Mr. Ashley-Montague schüttelte langsam den Kopf. »Anfang des Jahrhunderts kam es zu einem bedauerlichen Vorfall mit einem farbigen Mann, aber ich versichere dir, daß niemand aufgehängt worden ist, wie du es ausdrückst, ganz gewiß nicht an der Glocke in der Schule von Elm Haven.«
    »Okay«, sagte Dale, der auf dem hochlehnigen Stuhl gegenüber vom Schreibtisch saß und die Beine überein-anderschlug, als hätte er alle Zeit der Welt. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
    Mr. Ashley-Montague seufzte, sah aus, als würde er selbst überlegen, ob er sich setzen sollte, begnügte sich dann aber damit, beim Sprechen vor dem Fenster auf und ab zu gehen. Weit hinter ihm sah Dale ein großes Boot, das den Illinois River hinaufschip-perte.
    »Ich kenne nur die Umrisse«, sagte der Mann. »Ich war damals noch gar nicht auf der Welt. Mein Vater war Ende Zwanzig, aber noch nicht verheiratet... die Ashley-Montagues sind stolz darauf, daß sie sich erst spät im Leben eine Braut nehmen. Wie auch immer, was ich weiß, weiß ich durch Familienklatsch... mein Vater ist 1928 gestorben, weißt du, kurz nach meiner Geburt, daher kann ich nicht nachprüfen, ob die Einzelheiten stimmen. Dr. Priestmann hat den Vorfall nicht in seiner Geschichte des County erwähnt.
    Wie dem auch sei, mir ist bekannt, daß es um die Jahrhundertwende zu unangenehmen Vorfällen in diesem Teil des County gekommen ist. Ein paar Kinder sind verschwunden, glaube ich, obwohl es durchaus möglich ist, daß sie Ausreißer gewesen sind. Damals war das Leben auf einer Farm sehr hart, und es war nichts Ungewöhnliches, daß Kinder weggelaufen sind, statt ein schweres, arbeitsames Leben mit der Familie auf sich zu nehmen. Jedenfalls gab es ein Kind - die Tochter eines dortigen Arztes, wenn ich mich nicht irre -, die tatsächlich gefunden wurde. Es schien, als hätte man sie nicht nur

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